Die Welt nach dem 11. September Teil vier: Nach Afghanistan
Afghanistan: Krieg oder Terrorismus aus der Luft?
Es gibt keinen Krieg in Afghanistan. Krieg erfordert logischerweise mindestens zwei Seiten. Was
gegenwärtig stattfindet, ist die Bombardierung Afghanistans durch die USA. In dieser neu entdeckten
Taktik der einzigen Supermacht der Welt und selbsternanntem internationalen Sheriff, haben Terror und
Einschüchterung im grossen Stil formell den Krieg ersetzt. Nach Vietnam wurde entschieden, dass die
amerikanische Gesellschaft nie wieder Zeuge werden soll, wie Soldaten in Leichensäcken von weit
entfernten Schlachtfeldern zurückkehren. Der Preis dafür wird nun zu bezahlen sein von den
unglücklichen Zivilisten dieses elenden Landes, welches, nach den halbgaren Theorien des Dr.
Strangeloves des Nationalen Sicherheitsrates und des US Verteidigungsministeriums, die Bastion des
aktuellsten Erzfeindes der USA und des neuesten Anführers des "Reichs des Bösen" ist. Die Opfer, die
das US Militär vermeiden will, werden statt dessen hundertfach von unschuldigen Zivilisten erbracht,
welche kaum ihren Lebensunterhalt haben, in einem armen Lande am Rande der Welt. Den einen Tag
sind es die Menschen im Irak, die den Jackpot ziehen, am nächsten Tag sind es Jugoslawien, Lybien oder
Afghanistan. Im Schutz der Dunkelheit, von aus großer Höhe und außer Reichweite fliegenden
Flugzeugen und von Kriegsschiffen und U-Booten, versteckt in weit entfernten Ozeanen, werfen sie
zehntausende Tonnen von Bomben und Raketen auf die Menschen und ihre Städte. Sie rühmen sich
damit, dass sie dieses Land "zurück in die Steinzeit" schicken, und doch behaupten sie, dass die
moralisch "smarten" amerikanischen Bomben darauf programmiert sind, nur die Schuldigen zu treffen.
Das Ziel ist einzuschüchtern; die ganze Gesellschaft einzuschüchtern; durch Angst zu regieren - Angst vor
Tod und Vertreibung, Angst vor totaler Vernichtung einer ganzen Wirtschaft und zivilen Gesellschaft; zu
dem Punkt, an dem die Gesellschaft gelähmt ist und Widerstand unmöglich wird. Heutzutage sind die US-Bodentruppen
nur die Jagdhunde, die die leblose Beute zurückbringen, nachdem die Schiesserei zuende
ist und der Staub sich gesenkt hat. Niemand kann eine Kriegserklärung an die Taliban verurteilen - auch
nicht die USA oder der Westen. Die Taliban müssen gehen und können nur mit Gewalt und durch
militärische Aktionen beseitigt werden. Die Feindschaft zwischen dem Westen und den Taliban ist ihrer
bisherigen Freundschaft sehr vorzuziehen. Niemand will der Beseitigung von Mördern im Wege stehen,
welche zuerst durch den Westen selbst aufgebaut wurden. Aber es gibt einen Unterschied zwischen Krieg
und Terrorismus. Die Aktionen der USA und Englands in Afghanistan sind Terrorismus. Die
Bombardierung von Städten und Wohngebieten muss verurteilt und gestoppt werden. Wertlose Mythen
über die militärische Tapferkeit der Taliban und über Afghanistans Geschichte, Supermächte in die Knie
zu zwingen, verstärken und nähren nur die terroristischen Methoden der USA und Englands. Die
afghanischen Mujahedin waren lediglich Fassade für den Westen und die USA in ihrem Krieg gegen die
Sowjetunion. Die Taliban sind eine kriminelle Drogenbande, die erschaffen wurde durch den Westen mit
der Unterstützung Pakistans und Saudi Arabiens. Sie können sie ausschalten und innerhalb von Wochen
entfernen. Aber Luftterrorismus ist sicherer, spektakulärer, passender für eine Supermacht und
geeigneter, um der unzufriedenen Bevölkerung der Welt eine Lektion in der Tugend des Gehorsams zu
erteilen. Wir müssen diese inhumanen Methoden bekämpfen.
Von den Taliban zum politischen Islam
Die Aktionen der USA und Englands, sogar wenn sie zum Fall der Taliban und zu Bin Ladens Tod führen,
vermindern nicht die Drohungen des islamischen Terrorismus gegen den Westen, sie lassen ihn
eskalieren. Westliche Führer wissen das genau und warnen sogar öffentlich ihre Bürger. Jedoch, die Wahl
der USA, Afghanistan zum Schauplatz der Rache für die Grausamkeiten des 11.September zu machen,
hat zwei fundamentale Gründe.
Erstens, selbst wenn die USA zugestehen, dass islamischer Terrorismus und der antiwestliche Hass den
er nährt, ein politisches Problem ist, mit einer politischen Lösung, so sehen sie doch eine rein politische
Lösung für einen derart riesigen physischen und militärischen Angriff auf die USA am 11. September als
unzureichend und unbefriedigend an. Militarismus ist Teil und Gegenstand der offiziellen Ideologie in den
USA und eine Grundlage ihrer Identität als Supermacht. Somit kann für die US-Regierung ein Angriff auf
die USA nur angemessen beantwortet werden mit einem Angriff auf irgendjemanden, irgendwo anders.
Für die USA kann nur eine militärische Antwort den 11.September "rächen", unabhängig von den Wurzeln
und Ursachen des politischen Islam und des islamischen Terrorismus. Diese militärische Aktion muß
riesig sein und die "Wut und Kraft" der USA ausdrücken; es muß ihre Rücksichtslosigkeit zeigen. Eine
riesige militärische Aktion, wie auch immer, benötigt einen grossen Schauplatz. Krieg benötigt ein
Schlachtfeld. Afghanistan ist nicht ausgewählt worden, weil Bin Laden sich dort aufhält, im Gegenteil, Bin
Laden ist ausgewählt worden, weil er sich in Afghanistan aufhält. Da gibt es viele wie Bin Laden,
Oberhäupter des islamischen Terrorismus, die öffentlich oder heimlich im Iran, Großbritannien,
Frankreich, Ägypten, Pakistan, Libanon, Palästina, Tschechien und Baustein leben. Die Idee, das der
islamische Terrorismus die Struktur einer Pyramide, eine definierte Hierarchie mit Bin Laden an der Spitze
hat, ist lächerlich. Wer glaubt, dass (der iranische Ayatollah) Khamanei unter Bin Laden in dieser
terroristischen Hierarchie gearbeitet hat? Der Schlüssel ist Afghanistan, ein Land, welches das Szenario
für eine riesige militärische Aktion sein kann. Afghanistan ist der einzige passende Schauplatz für die
Rache der USA in der massiven und einschüchternden Grössenordnung, wie sie von der US-Admininstration
versprochen wurde. Zurzeit gibt es außerhalb Afghanistans keine solche militärische
Zielscheibe. Und hier beklagen sich westliche Führer noch über das Fehlen hoher Gebäude und großer
Brücken, die zu zerstören wären.
Zweitens, wie wir in Teil 3 sagten, was durch den Konflikt mit den Taliban und Bin Laden geklärt wird,
sind die Beziehungen und das Gleichgewicht der Macht zwischen den USA und dem Westen mit dem
politischen Islam. "Der lange Krieg gegen den Terrorismus" ist ein Code für einen Show-Down mit dem
politischen Islam. Vom amerikanischen Standpunkt aus, ist es ein Machtkampf, der früher oder später die
Merkmale einer neuen Weltordnung definieren muß nach dem Fall der Sowjetunion. Politischer Islam, ein
Nebenprodukt des Kalten Krieges, ist aufgetaucht als ein bourgeoiser Verfechter für politische Macht,
sowohl in den Ländern des mittleren Ostens wie in "islamischen" Vereinigungen in den westlichen
Gesellschaften. Diese Kraft ist eine Macht oder hat bedeutsame politische Hebelkraft in Teilen der Welt,
wie z.B. in bedeutsamen Ländern wie Iran und Pakistan. Sie ist ein Mitspieler im Kampf um die Zukunft
von Palästina und Israel. In der früheren Sowjetrepublik richtete sie Schaden an dicht bei empfindlichen
Kernarsenalen. Im Westen, dank Saudi Arabiens Geld, lokalen Staatssubventionen und der korrupten
Ideologie des kulturellen Relativismus, zieht es in vom Islam regierten Gebieten die Jugend in Scharen
an. Für den Westen ist der politische Islam nicht länger das Werkzeug und die Marionette, die ihm gut
nützte beim Zügeln der Sowjetunion, indem es die Linke daran hinderte, Macht zu bekommen durch die
antimonarchistische Revolution im Iran und dadurch, Probleme für Arafat und den arabischen
Nationalismus zu erschaffen. Jetzt ist diese Kreatur ehrgeiziger. Sie hat ihre eigenen Ziele. Sie hat sich
befreit aus der Schirmherrschaft des Westens. Und am 11.September ist der politische Islam aus
amerikanischer Sicht einen Schritt zu weit gegangen. Ein terroristischer Angriff dieser Größenordnung im
Herzen der USA löste diesen unvermeidlichen Machtkampf aus. Diese Ereignisse sind grundlegende
Momente und Stufen eines Machtkampfes zwischen den USA (und dem Westen) und dem politischen
Islam. Vom amerikanischen Standpunkt aus, ist es ein Kampf mit islamischen Staaten, islamischen
Parteien und der Gesamtheit der politischen islamischen Bewegung. Die Taliban sind das schwächste,
verwundbarste und unwichtigste Symbol der Macht des politischen Islam im Mittleren Osten und folglich
die passendste Stelle des Eintritts in einen umfassenden Machtkampf. Der Sieg der USA in Afghanistan
wirkt sich nicht aus, weder militärisch noch praktisch, auf die Grundlagen der politischen islamischen
Macht. Das wissen sie. Die Hauptzentren der Macht liegen primär im Iran, Saudi Arabien und in
islamischen Organisationen in Ägypten, Libanon und Palästina. Dieses ist jedoch ein Machtkampf und
nicht ein Kampf um Leben und Tod. Afghanistan ist der einzige Schauplatz, wenigstens im gegenwärtigen
Gefüge der Welt, wo in der Tat zur Zeit ein militärischer Konflikt zwischen den USA und dem politischen
Islam stattfinden kann. Es ist der einzige Schauplatz, wo der "lange Krieg gegen den Terrorismus" mit
einer dramatischen und spektakulären Aktion beginnen kann, ohne totales Chaos zu verursachen.
Dieses ist ein politischer Konflikt
"Der lange Krieg gegen den Terrorismus" ist eigentlich ein Machtkampf zwischen den USA und dem
politischen Islam. Nach Afghanistan wird die Konfrontation im Grunde politisch sein, auch wenn sich beide
Seiten gelegentlich bestimmten militärischen und terroristischen Aktionen zuwenden. Das Ziel der USA in
diesem Krieg ist es nicht, den politischen Islam auszuschalten. Entgegen der selbstherrlichen Propaganda
der sogenannten reformistischen Splitterparteien im Iran, sind es nicht die politischen Fertigkeiten des
Herrn Chatami, die den Iran vor der Bombardierung geschützt haben. Ein Angriff auf den Iran und ein
derartiger Bombenkrieg gegen dieses Land, sind überhaupt nicht Teil der westlichen Planungen. Die
Vorstellung, das die USA in einen militärischen Konflikt eintreten würde gegen Land nach Land, die zu der
Liste derer gehören, die einst als Terroristen abgestempelt wurden, ist außerordentlich oberflächlich. Das
Ziel der USA bei dieser Vorstellung ist es, weder den politischen Islam auszuschalten, noch islamische
Regierungen zu stürzen, sondern seine eigene politische Hegemonie aufzudrängen und die Regeln des
Spieles zu definieren. Vom amerikanischen Standpunkt aus, muss die islamische Bewegung ihre Grenzen
kennen. Sie muß ihr Einsatzgebiet auf die Region beschränken, ihren eigenen Platz begreifen und die
spezielle Position der USA anerkennen. So können islamische Regierungen nicht nur stark bleiben,
sondern außerdem ist sogar Terrorismus noch erlaubt, unter der Bedingung, dass seine Opfer die
Kommunisten und die Linken im Iran, in Afghanistan, Pakistan und der Türkei sind. Aber ein Angriff auf
dem Boden Amerikas geht zu weit. Die USA wollen diese Lehre und diese Gleichung dem Mittleren Osten
nahebringen.
Dies ist ein Machtkampf, und keine Auseinandersetzung über den Islam, Liberalismus, die westliche
Demokratie, den Frieden, die Zivilisation, die Sicherheit oder den Terrorismus. Dies ist ein Kampf
zwischen der amerikanischen Supermacht und einer regionalen politischen Bewegung mit einer globalen
Reichweite, die um Macht im Mittleren Osten kämpft. Es ist ein Kampf darum, Einflußgebiete zu definieren
und politische Vorherrschaft. Der Westen beabsichtigt nicht, westliche Demokratien im Mittleren Osten zu
etablieren. Die USA, Pakistan, Iran und ein ganzer Haufen anderer Reaktionäre in der Region schmieden
schon eifrig ein Komplott, um den Menschen von Afghanistan ein anderes despotisches und
rückständiges Regime aufzuzwingen. Iran, Saudi Arabien, Pakistan und die Golf Emirate, die
reaktionärsten Regime der Welt heutzutage, sind offen oder stillschweigend auf der Seite des Westens in
diesem Konflikt. Sogar wenn islamische Regierungen fallen, werden die bevorzugten Alternativen des
Westens die lokalen und regionalen rechten Flügel und die reaktionären Parteien, Militärjuntas und
Polizeistaaten sein.
Die USA machen keine Geschichte
Aber der Westen bestimmt nicht die Zukunft. Die gegenwärtige US-Politik und Aktionen werden
zwangsläufig die gegenwärtige politische Struktur des Mittleren Ostens zerschlagen, aber andere Kräfte
werden über die alternativen Verhältnisse bestimmen, die dann Gestalt annehmen. Zweifellos wird die
Konfrontation zwischen dem Westen und dem politischen Islam die islamische Bewegung, islamische
Parteien und islamische Regierungen schwächen. Aber diese Konfrontation findet nicht auf einer leeren
Bühne statt. Der Mittlere Osten, genauso wie der Westen, sind das Szenario der Konfrontation zwischen
sozialen Bewegungen, die schon vor dem Konflikt zwischen der westlichen Bourgeoisie und dem
politischen Islam existiert haben, und die die politischen Entwicklungen in allen Gesellschaften geformt
haben. Der Konflikt des Westens mit dem politischen Islam ist trotz seiner Wichtigkeit nicht das
Antriebsrad und die bewegende Kraft der Geschichte. Im Gegenteil, er hat selbst einen Platz in dieser
Geschichte und wird dadurch definiert. Der Konflikt um die neue Weltordnung hat wichtigere Mitspieler.
Soziale Klassen und ihre politischen Bewegungen, ob im Westen oder im Mittleren Osten, stehen sich
gegenüber um die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zukunft der Welt. Es sind diese Bewegungen,
die den letztendlichen Kurs dieser Ereignisse bestimmen, ungeachtet der gegenwärtigen Pläne und
Forderungen der westlichen Staatsmänner und der Anführer des politischen Islam.
Soweit es den Mittleren Osten betrifft, auch wenn der Westen auf einen unwichtigeren Schauplatz des
politischen Islam und der Definition eines neuen Rahmens der Koexistenz abzielt, werden die weltlichen,
sozialistischen und fortschrittlichen Bewegungen in der Region auch unter diesen neuen Bedingungen
nach vorne kommen. Zum Beispiel wird, meiner Meinung nach, der politische Islam im Iran zerschlagen
werden, nicht weil der Westen ein solches Ziel verfolgt, sondern weil die Menschen des Iran und die
Arbeiterkommunistische Bewegung an ihrer Spitze die Islamische Republik stürzen werden. Die
Zerschlagung der Islamischen Republik wird der grösste Schlag gegen den politischen Islam sein. Wenn
die Lösung der Palästina-Frage die Vorbedingung für die Entfernung der politischen, intellektuellen und
kulturellen Ursachen des Wachstums des politischen Islams ist, so ist der Sturz der Islamischen Republik
im Iran eine Vorbedingung für die Zerschlagung des politischen Islam als eine Bewegung, die nach Macht
im Mittleren Osten strebt. Ohne die Islamische Republik Iran, wird der politische Islam eine ergebnislose
und unwesentliche Opposition im Mittleren Osten werden.
Mansoor Hekmat
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