Demokratie: Interpretationen und Realitäten
Frage: Mit der Beendigung des Kalten Krieges und dem Zusammenbruch des Ostblocks ist überall vom Sieg
der Demokratie die Rede. Man sagt, daß zum ersten Mal in der Geschichte in 170 Ländern Demokratien
errichtet worden sind. Als Beweis wird auf den Sturz der Militärdiktaturen in den lateinamerikanischen
Ländern während der letzten Jahre und auf die Machtergreifung neuer Regierungen durch Wahlen in
einigen osteuropäischen Ländern und zuletzt in Afrika hingewiesen. Bedeutet das, was passiert, wirklich das
Ende der Militärdiktaturen und der totalitären und despotischen Regime?
Mansour Hekmat: Es sieht so aus, als ob gerade in der letzten Zeit das Gerede über den Sieg der Demokratie
etwas abgenommen hat. Vor 2 - 3 Jahren, als diese Diskussion noch sehr heiß war, habe ich bereits meine
Meinung dazu gesagt. Schon damals war die Formulierung "Epoche des Zusammenbruchs der Diktaturen" eine
illusorische Formulierung, die pausenlos durch die liberalen Politiker und unzufriedenen Intellektuellen der
unterentwickelten Länder und des Ostblocks wiederholt wurde. Dadurch versprachen diese sich, als
Folge des Sieges des Westens über den Osten belohnt zu werden. Sie mußten sehr bald feststellen, daß dies eine
sehr illusorische Erwartung war. Sie erinnern sich sicherlich, daß damals die iranischen Republikaner schon auf
ihren Koffern saßen und darauf warteten, in Teheran an der Seite von "Präsident Rafsandschani" den Anbruch
dieser Epoche feiern zu können. Heute sind sie dabei, ihre Toten zu zählen.
Auf jeden Fall wurden solche Strömungen, und mit ihnen ein Teil der entrechteten Masse, sowohl im Westen und
Osten als auch im Süden durch die Alternativen der neuen Rechten und Versprechungen einer neuen Weltordnung
seitens der USA und des Westens mobilisiert. Diese Illusionen haben heute weitgehend ihre Kraft verloren. Es
wurde klar, daß die Beendigung des Kalten Krieges nicht mit der Ausweitung der Freiheit und der Menschenrechte
oder dem sozialen Frieden gleichzusetzen ist. Ganz im Gegenteil: die gesamte Welt spricht nun über die
schrecklichen Ereignisse der letzten drei Jahre und über die weltweite politische und soziale Unsicherheit.
Es ist wahr, daß einige hauptsächlich lateinamerikanische militärische Regime ihren Platz an zivile Regierungen
abgetreten haben. Aber das allein sagt noch nicht viel über den Grad des Despotismus und Totalitarismus. Die
militärischen Regime sind nicht die einzige oder sogar am stärksten verbreitete Form des politischen Despotismus
gewesen. In den meisten Fällen hat die Ersetzung der militärischen durch nichtmilitärische Regime keine große
Änderung der Methoden des Staates oder seiner Strukturen mit sich gebracht. Soweit es den Totalitarismus, nämlich
die Herrschaft des Staates als Institution über alle politischen und kulturellen Aktivitäten angeht, wurde dieser
Aspekt gerade durch die Wiederbelebung des Islam und die Ausweitung der offiziellen Macht der Kirche in
verschiedenen Ländern verstärkt.
Die Ersetzung der ehemaligen militärischen Regime durch zivile Regierungen in einigen ärmeren Ländern, die
hauptsächlich nach einem schon vorher verabschiedeten Zeitplan der militärischen Regime selbst durchgeführt
wurde, ist mehr auf wirtschaftliche Faktoren zurückzuführen, und ist eher das Ergebnis der sozialen
Funktionsunfähigkeit der militärischen Regime in diesen Ländern gewesen, als das Resultat einer Offensive der
freiheitlichen Kräfte. Das alte Problem dieser Länder ist im Grunde die wirtschaftliche Entwicklung. Der Sinn der
militärischen Regime für die Bourgeoisie in diesen Ländern sollte die Beseitigung der politischen Zerstrittenheit
innerhalb der herrschenden Klasse selbst, die Gewährleistung der Unterdrückung der Arbeiterklasse, und somit die
Schaffung der notwendigen sozialen und politischen Grundlage für die Erhöhung der Gewinnspanne des Kapitals
und der wirtschaftlichen Wachstumsrate sein. Die Strategien der wirtschaftlichen Entwicklung in diesen Ländern
sind bereits in eine Sackgasse geraten. Alle sind auf den Marktmechanismus und die Freigabe des Spielraums für
das private Kapital als dessen notwendige Folge aufmerksam geworden. Der Militärstaat verursacht eine allgemeine
Unzufriedenheit und eine politische Instabilität, ohne irgendeinen Zweck für die Bourgeoisie zu erfüllen.
Kurz gesagt hat die Demokratie, so, wie sie von ihnen definiert wird, gesiegt. Demokratie ist keine Antithese für
Unterdrückung und Absolutismus. Sie bedeutet nur, daß eine Art landesweites Parlament auf der Grundlage
allgemeiner (nicht unbedingt freier) Wahlen vorhanden ist. Sicherlich ist so ein parlamentarischer Staat einem
Polizei- und Militär-Regime vorzuziehen, weil allein schon das Lippenbekenntnis der Bourgeoisie zur politischen
und geistigen Freiheit der Gesellschaft bestimmte Spielräume für die Arbeiterklasse und die entrechteten Schichten
und Verteidiger der Freiheit schafft. Aber dies verdient noch lange keinen Beifall. Die Hauptmerkmale der
Bourgeoisstaaten in Asien, Afrika und Lateinamerika; nämlich das Verbot oder die starke Einschränkung der
Arbeiter und sozialistischer Organisationen, die Einschränkung der Redefreiheit, der politischen Aktivitäten, des
Koalitionsrechts und des Protests, die Existenz von berüchtigten und über dem Gesetz stehenden militärischen und
polizeilichen Organisationen und einer völlig vom Staat abhängigen Justiz, das Fehlen von garantierten politischen
und bürgerlichen Rechten für das Individuum, das Verbreitetsein von Folter; die gesetzliche Todesstrafe und kurz
gesagt die Rechtlosigkeit und Machtlosigkeit des Bürgers gegenüber der Staatsmacht, sind alle unberührt geblieben.
Man kann von Ozeanien und Südostasien bis Nordafrika und Südamerika solche Länder mit Namen nennen und sich
ein Bild von ihnen machen.
Ehrlich gesagt bin ich bereit zu akzeptieren, daß die Demokratie gesiegt hat und daß sie jetzt in 170 Ländern, d.h.
überall, wo irgendwelche Personen als Abgeordnete auf Kosten der Bevölkerung bezahlt werden, herrscht. Damit
sind auch solche Länder wie Litauen, Lettland und Estland gemeint, in denen die Hälfte der Bevölkerung mit der
Anschuldigung, ihren Kindern Bettgeschichten in russischer Sprache zu erzählen, kein Wahlrecht hat. Auch Länder
wie Ägypten, Jordanien, der Iran, Südkorea und neuerdings Kuwait, Kenia usw. gehören dazu. Man darf nicht
päpstlicher sein als der Papst selbst. Wenn die Demokratien meinen, daß das, was in der Welt herrscht, Demokratie
zu nennen ist, dann wird klar, daß es den Menschen nicht um die Demokratie,sondern um Freiheit und Gleichheit
gegangen ist. Die Statistiken über die politischen Unterdrückungen, Hinrichtungen, Folterungen, Einschränkungen
und Verbote, und nicht zu vergessen die Armut, Obdachlosigkeit und Sterblichkeitsrate infolge fehlender oder
schlechter Ernährung, die den Menschen seit ein paar Jahren des Sieges der Demokratie aufgezwungen worden sind,
lassen uns kein gutes Urteil über die Welt unter der Herrschaft der Demokratie abgeben.
Frage: Demokratie wird in einer sehr unterschiedlichen Weise definiert und interpretiert. Was ist Ihrer Meinung
nach die Demokratie?
Mansour Hekmat: Ich glaube nicht, daß Sie erwarten, von mir eine Definition der "wahren" und "echten"
Demokratie zu hören. Demokratie ist kein Schlüsselgedanke in meinem Gedankensystem als Sozialist und Marxist.
Wir reden von Freiheit, und dies ist für uns ein zentraler Gedanke. Aber Demokratie ist eine besondere
Klasseninterpretation und eine bestimmte historische Betrachtungsweise der Freiheit als ein allgemeiner
Grundgedanke. Demokratie ist eine Erscheinungsform, durch die ein bestimmter Teil der menschlichen Gesellschaft
in einem bestimmten Abschnitt der Geschichte den allgemeineren Begriff Freiheit für sich konkretisiert hat. Deshalb
kann meine Interpretation von der Demokratie nur eine objektive und historische Interpretation sein. Ein Liberaler
oder Demokrat, jemand dessen Ideal die Demokratie ist, kann eine ',interne'' und subjektive Interpretation der
Demokratie liefern. Er kann sagen, was seiner Meinung nach eine wahre Demokratie ist, und was nicht unter
Demokratie fällt. Aber ein Marxist muß sich meiner Meinung nach mit der praktischen und historischen Bedeutung
der Demokratie und ihrer sozialen Funktion auseinandersetzen.
Demokratie als eine Realität, mit der die Menschen der heutigen Epoche konfrontiert gewesen sind, und nicht als
ein Begriff aus einer antiken Schrift, ist das Ergebnis des Aufstiegs des Kapitalismus gewesen. Demokratie ist, wie
ein Bourgeois die Freiheit sieht. Ich meine auf keinen Fall, daß es nur eine Definition von der Demokratie gibt, oder
historisch gesehen nur die Bourgeoisie die Demokratie gewollt oder zu interpretieren versucht hat. Gerade, und dies
besonders seit zwei Generationen, ist Demokratie oft die Forderung unterster Schichten und Klassen gewesen, und
sie ist durch die Intellektuellen und Bewegungen dieser Schichten und Klassen kommentiert und ausgelegt worden.
Aber dies ist kein Beweis dafür, daß dieser Gedanke keine Bourgeois-Gedanke ist, sondern zeigt im Gegenteil, daß
die Ideologie und Terminologie der Bourgeoisie die Kämpfe für die Freiheit und Befreiung beherrscht hat. Es ist der
Bourgeoisgesellschaft gelungen, die Freiheit durch Demokratie zu ersetzen, und so die äußerste Grenze, die die
Kämpfe der unteren Schichten für die Freiheit erreichen konnten, und die Form ihres endgültigen Sieges
vorzudefinieren. Sie kämpfen für die Freiheit, und was sie nach dem "Sieg" bekommen, ist ein Parlament und
"Pluralismus". Das Vorhandensein verschiedener Interpretationen der Demokratie hat daraus einen der vagsten,
unbestimmtesten und auslegbarsten Begriffe im Wörterbuch der politischen Ausdrücke gemacht. Die verschiedenen
Bewegungen und Politiker redeten und reden mit unterschiedlichen und manchmal gegensätzlichen Interessen und
Zielen von der Demokratie, und meinen sicherlich nicht das Gleiche. Unterschiedliche politische Zustände wurden
durch unterschiedliche Strömungen als Demokratie bezeichnet. Uns sind die antikommunistischen Interpretationen
und die Interpretationen aus der Zeit des Kalten Krieges bis hin zu humanistischen und rechtfordernden
Interpretationen bekannt. Man kann das gemeinsame und objektive Wesen hinter all diesen Auslegungen der
Demokratie und der Demokratiebewegung. die sie in allen ihren Versionen vom Sozialismus und von sozialistischer
Freiheit unterscheidet, erkennen und definieren. Aber eine bloße Festlegung der Bedeutung der Demokratie in dieser
allgemeinen Form, sagt politisch nicht viel, und hilft uns in der Unterscheidung der sozialen Bewegungen und
Strömungen voneinander nicht weiter. Deshalb werden die Adjektive, Präfixe und Suffixe, die man an die
Demokratie anhängt, ihre Bedeutung präzisieren: wie z.B. die liberale Demokratie, die Volksdemokratie. die
parlamentarische oder repräsentative Demokratie, die direkte Demokratie, die westliche Demokratie usw.. Diese
Ausdrücke sind politisch vollkommen klar und definierbar, und man kann ihre Unterschiede, und sehr oft ihre
Widersprüche feststellen. Auch die Bewegungen und Kräfte, die sich zu jeder der oben genannten Versionen der
Demokratie bekennen, sind definierbar und oft voneinander zu unterscheiden.
Frage: Lassen Sie uns zu den Unterschieden zurückkehren. Es ist besonders wichtig, daß wir uns über die
westliche, parlamentarische und liberale Demokratie unterhalten. Zunächst wäre es aber besser, wenn Sie mehr
über das "gemeinsame und objektive Wesen" aller dieser verschiedenen Auslegungen der Demokratie, die Sie
vorhin erwähnt haben, erzählen würden.
Mansour Hekmat: Man kann hier natürlich ein paar Indikatoren nennen, aber eine ausführliche Diskussion darüber
muß zu einer anderen Gelegenheit stattfinden.
Demokratie als Volksherrschaft war eine Interpretation, die im 18. und 19. Jahrhundert gegenüber den
absolutistischen Monarchien und despotischen Regimen, die durch Monarchen und Kirchen gestützt worden sind,
an Boden gewonnen hat. Anstelle der vorhandenen Herrschaftsformen, deren Legitimität und Stärke von einer
Quelle jenseits des Volkes und der Gesellschaft hervorging, wollten die aufkomrnende Bourgeoisie, die Masse der
Bevölkerung und alle Wohlwollenden der Gesellschaft einen Staat, der sich auf den Volkswillen stützt. Übrigens ist
diese Forderung selbst, wie wir in den Kämpfen der darauffolgenden zwei Jahrhunderte sehr klar gesehen haben,
sehr vage: 1 ) die praktische Form der Intervention des Volkes in die politische Macht und das, was der Staat sein
soll, und 2) der Begriff "Volk" , und was das beinhaltet. Bis zur heutigen Generation kennen wir diese und jene
Demokratie, in der große Teile der Menschen, und manchmal sogar die Mehrheit der Menschen, wie Frauen,
Schwarze, Immigranten usw., nicht zum "Volk" zählen. Es ist noch nicht sehr lange her, daß der lohnabhängige
Mensch aus der Sicht des demokratischen Prozesses als ein Teil des Volkes definiert wird. Beide Fehler, nämlich
die Struktur des Staates und die praktische Verbindung zwischen dem Volk und der staatlichen Macht, und die
Reichweite der Bevölkerungsschichten, die durch diese Demokratie abgedeckt wird, sind ernsthafte Fehler
politischer Auseinandersetzung gewesen. und das Ergebnis dieser Auseinandersetzung gewesen, und das Ergebnis
dieser Auseinandersetzungen hat das praktische Gesicht der Demokratie in Europa und den USA sehr stark
verändet.
Aber auf jeden Fall beinhaltet der Demokratiegedanke eine objektive Wirklichkeit, und das ist die Ablehnung einer
Herrschaft, deren Machtquelle jenseits der Gesellschaft liegen würde oder die überhaupt unerklärbar wäre. Aus der
Sicht der Demokratie und des demokratischen Denkens ist eine nichtwiderrufliche Macht, auch wenn sie durch
Wahlen an die Macht gekommen ist, undemokratisch. Anders formuliert: für das demokratische Denken und
demokratische Regime jeglicher Form kommt die Staatsmacht aus dem Volk heraus und ist gegenüber dem Volk
verantwortlich und letztendlich auch durch dieses veränderbar. Bis zu welchem Grad diese Behauptung in diesem
oder jenem Land oder in dieser oder jener politischen Schule eine leere oder wahre Behauptung ist, ist eine andere
Sache. Egal mit welcher Interpretation der Demokratie wir es zu tun haben, alle wollen sich auf irgendeine Weise
für die Festlegung des Staates auf die Stimme des Volkes berufen können.
Zweitens und wichtiger, die Demokratie und die Demokratiebewegung sind aus sich heraus gegenüber der sozialen
Struktur und den wirtschaftlichen Verhältnissen blind. Anders formuliert: die Demokratie und der Demokratismus
setzen die vorhandenen wirtschaftlichen Verhältnisse, die Rolle des Staates, die Position der Menschen in der
Produktion und die Eigentumsverhältnisse, die Einteilung der Menschen in Klassen, Schichten und ähnliches, die
politischen und administrativen Institutionen voraus. Z.B. ist der Versuch, das Eigentum als Voraussetzung für die
Teilnahme an Parlamentswahlen abzuschaffen, eine demokratische Bewegung; aber das Eigentum selbst und die
Eigentumsverhältnisse der Bevölkerung sind kein Thema mehr· Aus demokratischer Sicht kann man die Teilnahme
von Frauen an zu entsendenden Einheiten der US-Armee in den Golf fordern und seine Augen vor der Rolle und
Funktion der Armee und dieser Operation verschließen. Oder man kann gegen den CIA protestieren und die
Einstellung von mehr Indianern auf seiner höheren Ebene fordern. Die Menschen im Libanon in Shiiten, Suniten
und Christen aufzuteilen, und dann später einen Staat für dieses Land zu fordern, an dem alle diese "Schichten"
beteiligt sein sollen, ist trotz der Ekelhaftigkeit eine demokratische Position. Die industrielle Demokratie akzeptiert
z. B. im Gegenzug zur Erzielung gewisser Zuständigkeiten für die Gewerkschaften, die Aufteilung der Menschen in
Arbeitgeber und Arbeitnehmer, und verewigt sie in seinem System.
Es muß klar geworden sein, daß die Blindheit der Demokratie gegenüber den wirtschaftlichen Verhältnissen und der
Klassifizierung der Menschen in der Gesellschaft nicht heißt, daß die Demokratie auf die politische Sphäre
beschränkt und die Demokratiebewegung lediglich eine politische Kategorie bleibt. Ganz im Gegenteil bedeutet d2s,
daß das gesamte wirtschaftliche Fundament der vorhandenen Gesellschaft, nämlich das Bourgeioseigentum und die
kapitalistische Produktion mit allen sozialen- und Klassendimensionen durch diese Denkweise und Bewegung
übernommen und zur sozialen Basis der Demokratie umgewandelt wird. Demokratie ist eine politisches Regime
und/oder die Forderung eines politischen Regimes auf der Basis des Kapitalismus. Aus theoretischer Sicht oder aus
der Sicht der historischen Wirklichkeit ist die Forderung nach Demokratie der Forderung nach "demokratischem
Kapitalismus" gleichzusetzen.
Kurz gesagt, der gemeinsame und objektive Inhalt der Demokratie und Demokratiebewegung ist, daß sie immer die
Verbreitung der formalen und rechtlichen Basis der politischen Macht auf immer mehr Schichten und Aufteilungen
in dieser Gesellschaft will, vorausgesetzt, daß die kapitalistischen. sozialen Verhältnisse und die politische,
wirtschaftliche und ideologische Herrschaft der Bourgeoisie unangetastet bleibt. Praktisch gesehen ist die
Demokratie eine Formel, durch die eine Schicht, die gegen ihren expliziten oder impliziten Ausschluß aus dem
Entscheidungsprozeß protestieren will, damit ihre Bewegung beschreibt. Meiner Meinung nach ist dies die
gemeinsame und allgemeine Charakteristik der verschiedenen Demokratien und nichts mehr.
Demokratie selbst ist kein politischer Zustand oder ein Regime und keine definierbare oder einmalige Verfassung,
sondern sie ist eine permanente Bewegung der nichtintegrierten Schichten zur Erzielung gleicher rechtlicher
Zugeständnisse in Bezug auf die politische Macht. Deshalb hängt der Charakter der Demokratie und des
Demokratismus davon ab, von welcher Schicht er inspiriert worden ist, und in welcher Gesellschaft und auf
welchem politischen Scheideweg die Demokratie zustande gekommen ist. Die private Bourgeoisie verkündet durch
ihre Sprecher im Westen und Osten im Kampf gegen die administrative und industrielle staatliche Bürokratie im
Ostblock ihren Willen, an der Macht teilnehmen zu wollen. Sei es im Westen oder sei es im Osten, sie nennen ihre
Bewegung eine Bewegung für die Demokratie. Die. Schwarzen in Südafrika wollen auch das Recht haben, wie
gleichberechtigte Bürger an den Wahlen teilnehmen zu können: sie wollen auch Demokratie. Die sozialen Ziele und
Ideale dieser beiden Bewegungen sind aber sehr unterschiedlich.
Frage: Sie sagen, daß Demokratie eine Formel für diejenige Schicht ist, die vor hat, die Türen der Macht für
sich zu öffnen, oder anders formuliert, die rechtliche Basis der Macht auszudehnen und die BeteiJigung immer
breiterer Schichten an der Macht zu ermöglichen. Das ist genau das, was die Demokratie in der öffentlichen
Meinung legitimiert und beliebf macht; nämlich die Befugnis zu haben, sich in die Angelegenheiten der
Gesellschaft einzumischen und individuelle Freiheit zu erlangen. Was ist Ihrer Meinung nach dagegen
einzuwenden?
Mansour Hekmat: Die Ausdehnung der rechtlichen und formalen Basis der politischen Macht,
wovon ich gesprochen habe, ist überhaupt nicht mit der "Teilnahme immer breiterer Schichten an der Macht" oder
damit, "die Befugnis zu haben, sich in die Angelegenheiten der Gesellschaft einzumischen und individuelle Freiheit
zu erlangen" gleichzusetzen. Gerade das, was die Demokratie nicht nur legitimiert hat, sondern daraus ein heiliges
Wort im politischen Wortschatz der Bevölkerung gemacht hat, ist die Tatsache, daß die rechtliche und formale
Ausdehnung der Möglichkeit für die verschiedenen Schichten der Gesellschaft, an der Macht teilzunehmen, mit
individueller Freiheit und damit, die Befugnis zu haben, sich wirklich in die Angelegenheiten der Gesellschaft
einzumischen, verwechselt wird. Beides ist nicht das Gleiche. Darüber, was gegen die Demokratie mit ihrer
Definition, die eine liberaldemokratische Definition ist, einzuwenden ist, werde ich später sprechen.
Mein Hauptanliegen war, klar zu machen, daß die Demokratie ohne Suffix und Präfix nichts anderes ist, als eine
Formel und politische Forderung im Rahmen der kapitalistischen Gesellschaft, mit dem Ziel, die Teilnahme der
sozialen Schichten am rechtlichen Prozeß der Bildung des Staates und der politischen Macht zu ermöglichen. So
betrachtet ist die Demokratie immer noch kein besonders politisches System und keine besondere politische
Richtlinie für die Gesellschaft. Das Problem ist nicht, daß man dem "Volk" mehr Macht gibt oder geben will. Alle
Länder der Welt - mit ganz wenigen Ausnahmen - nennen sich, unabhängig von dem Ausmaß der gegebenen
bürgerlichen Rechte, demokratisch weil sie auf einen formalen und rechtlichen Prozeß, durch den das "Volk" sich
an der Festlegung der Regierung beteiligt hat, verweisen können. Nach der liberal-demokratischen Interpretation
sind viele dieser Länder, wie z.B. die proamerikanischen zivilen und parlamentarischen Staaten in Lateinamerika
und Südostasien nicht demokratisch und nie demokratisch gewesen. Nach der volksdemokratischen Interpretation ist
die liberale Demokratie auch nicht demokratisch. Aber allein dies macht die Unterschiede zwischen den liberalen,
kaltkriegerischen, völkischen, anarchistischen, sozialdemokratischen, technokratischen usw. Interpretationen der
Demokratie deutlich und sa t uns nichts über die 'Unechtheit" der Demokratie in diesem oder jenem Land.
Und schließlich habe ich betont, daß wir, bevor wir uns als Sozialisten mit diesen Präfixen und Suffixen unsere
Köpfe zerbrechen, es mit dem gemeinsamen Wesen aller dieser Interpretationen zu tun haben. Als Sozialisten sind
wir sehr weit entfernt von diesen Interpretationen, die das bestehende Wirtschaftssystem grundsätzlich akzeptieren
und die Problematik der politischen Freiheit auf die Teilnahme des Individuums oder der "Schichten" am formalen
und rechtlichen Prozeß der Bildung der Regierung reduzieren. Die Demokratie in ihren bisherigen verschiedenen
Formen und Interpretationen, ist in den Augen der Bevölkerung ein Mechanismus für die Legitimierung des
Klassenstaates der Bourgeoisie, der über den Menschen steht, gewesen.
Erstens erinnere ich daran, daß der Sieg der Demokratie über die absolutistischen Staaten in Europa dem
"Individuum" überhaupt keine Macht, auch nicht formal, gegeben hat. Noch für Jahrzehnte blieb der
wahlberechtigte Bürger in den europäischen Demokratien der "freie" männliche Weiße, der Land- oder
Kapitalbesitzer ist. Das Wahlrecht für die Arbeiter, Frauen, Farbigen usw. ist kein organischer Bestandteil der
Demokratie, und muß erst durch die Kämpfe der verschiedenen Schichten und Klassen in der demokratischen
Gesellschaft durchgesetzt werden. Kämpfe, die unter der ideologischen und politischen Fahne anderer Bewegungen
wie der sozialistischen Bewegung, der Bewegung für die Gleichberechtigung der Frauen, der antirassistischen
Bewegung usw. geführt wurden, wurden hauptsächlich in einer undemokratischen und illegalen Weise geführt.
Zweitens ist der Demokratiebegriff, wie auch die Begriffe Unabhängigkeit oder Autonomie, genau genommen nicht
unbedingt ein Synonym für mehr soziale Gerechtigkeit und Gleichheit oder sogar mehr individuelle Freiheit,
Demokratie, Unabhängigkeit usw. sind bestimmte administrative und politische Rahmenbedingungen, die mit
unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden können. Man weiß vorher nicht, ob die Unabhängigkeit von Bangladesch;
Litauen, Tadschikistan oder dem Baskenland unbedingt zu mehr Menschenrechten, zu mehr Wohlstand und zu mehr
sozialer Gerechtigkeit führen wird. Man weiß vorher nicht, ob es, falls die Kroaten, Serben und Bosnier "selbst" die
Führung innerhalb ihrer Grenzung übernehmen, dem durchschnittlichen Menschen besser oder schlechter als zur
Zeit Jugoslawiens gehen wird. Es gibt tatsächlich viele Beispiele in unserer Zeit, in denen die Menschen ihre
halbwegs errungenen Rechte im Namen der Unabhängigkeit und Autonomie und im Namen eines "eigenen Staates"
verloren haben.
Genauso trifft dieser Punkt auf die Demokratie ohne Präfix und Suffix zu. In den meisten islamisierten Ländern
besiegelt jedes von der Mehrheit gewählte Parlament und jedes Referendum höchstwahrscheinlich die Position der
Frau als zweitrangige Bürgerin oder als noch weniger in einem Gesetz. Die Parlamente in den USA und England
oder sogar im ganzen demokratischen Europa haben für die Truppenentsendung und Massaker im Golf gestimmt.
Mehr als 90 Prozent der Bevölkerung im Iran haben ihre Zustimmung zu einer islamischen Republik in einem
Referendum verkündet, und genau das Gleiche hätte in Algerien passieren können, wäre es nicht vorort verhindert
worden. Die freien Parlamente in Europa und jedes Referendum in diesen Ländern werden - ohne Probleme damit
zu haben - der Verletzung der Grundrechte der Weltbevölkerung und der Entsendung von Truppen, wohin sie
wollen, zustimmen. Solche Entscheidungen werden Werte, wie Menschenliebe, Freiheit, Gleichheit und die Würde
des Menschen verletzen, aber sie stehen in keinem Widerspruch zur Demokratie oder zu einem demokratischen
Prozeß. Demokratie ist die rechtliche Rahmenbedingung, um Entscheidungen zu treffen; sie ist kein Muster und
Maßstab für den Inhalt der Entscheidungen selbst. Der Demokratiebegriff bedeutet Volksherrschaft, und wie ich
schon gesagt habe, hat sich dieser Gedanke als Alternative zu religiösen, adeligen, monarchistischen und
absolutistischen Staaten herausgebildet. Wie die demokratische Gesellschaft individuelle Freiheit. soziale
Gerechtigkeit,Gleichheit der Menschen, Menschenrechte usw. interpretiert, ist kein Thema, das die Demokratie
selbst behandelt. sondern es gehört zum Inhalt der politischen und ideologischen Auseinandersetzungen der sozialen
Klassen in der Gesellschaft. Der größte Teil der Forderungen, die heute mit der Demokratie assoziiert werden, wie
z.B. Rechtsstaat, Achtung der Menschenrechte, bürgerliche, individuelle und gemeinschaftliche Freiheiten usw.
haben von sich aus nichts mit der Demokratie zu tun, sondern sie dokumentieren den Einfluß bestimmter sozialer
Strömungen und politischer und ideologischer Traditionen wie z.B. den des Liberalismus oder des Sozialismus auf
die Demokratie.
Frage: Wollen Sie damit etwa sagen, daß der Demokratie eine selbständige Definition solcher Gedanken wie
individuelles und bürgerliches Recht, individuelle und bürgerliche Freiheit oder Volksherrschaft fehlt?
Mansour Hekmat: Das Problem ist, daß es keine Interpretation der Demokratie, losgelöst von der Bewegung oder
ideologischen Schule, die sich über die Demokratie äußert, gibt. Niegendwo werden wir die goldenen Grundsätze
der Demokratie, unabhängig von den politischen Schulen, gedruckt finden. Die Interpretation der liberalen Schule
von der Demokratie, und das auch nur auf dem Papier, ist die verbreitete und dominierende Interpretation der
Demokratie gewesen. Ich sage auf dem Papier, weil tatsächlich während des größten Teils des 20. Jahrhunderts und
bis zur heutigen Zeit zwei andere Interpretationen der Demokratie das Leben der großen Mehrheit der
Weltbevölkerung praktisch beeinflußt haben: einmal die kaltkriegerische ("die westliche Demokratie")
Interpretationen, die trotz der engen Verwandschaft mit der liberalen Interpretation, die das Bewußtsein breiter
Massen der beherrschten und unterentwickelten Länder durch die Demokratie beeinflußt hat. Das Selbstve r ständnis
von der politischen Macht, von bürgerlichen Rechten und von individuellen Freiheiten ist in diesen beiden Schulen
ganz unterschiedlich. Während eines großen Teils der Nachkriegszeit, als die westliche Demokratie und die
Volksdemokratie überall in der Welt über die praktische Bedeutung dieser Begriffe miteinander revalisiert haben,
war die liberale Demokratie in kulturellen Bereichen, in wohltätigen Stiftungen und in
Menschenrechtsorganisationen dabei, die Fehler der beiden Seiten in ihren Bücher zu dokumentieren.
Was sie alle gemeinsarn haben, und was den objektiven Inhalt der Demokratie bildet, ist, daß das kapitalistische
System vorausgesetzt wird, und daß versucht wird, einen rechtlichen Mechanismus für die Teilnahme des Volkes
(egal mit welcher Definition) am Prozeß der Festlegung und Änderung der Regierung durchzusetzen. Das Wesen der
Demokratie wurde mit der Mehrheitsregierung definiert und nicht mit der Ausrichtung nach bestimmten Maßstäben,
Werten und Rechten. Es ist der Verdienst der verschiedenen politischen Bewegungen und Schulen gewesen, solche
Maßstäbe in die Definition der Demokratie einzuführen. Das wurde durch alle, den Liberalismus, Sozialismus,
Konservatismus, Anarchismus usw. gemacht. Es besteht kein Zweifel daran, daß die Demokratie, im Gegensatz zu
einer undemokratischen Form des Staates, als ein System, in dem die Einmischung des Individuums und der
sozialen Schichten in die Angelegenheiten des Staates erlaubt ist, mehr Spielraum für die verschiedenen sozialen
Bewegungen schafft, um die Gesellschaft zu prägen und sich für Veränderungen in der Gesellschaft nach ihren
Vorstellungen einzusetzen. Aber dies alleine bestimmt den Charakter der Gesellschaft nicht. Das Ergebnis des
demokratischen Prozesses ist nicht unbedingt mehr individuelle und gemeinschaftliche Freiheiten, Gleichheit und
soziale Gerechtigkeit, Achtung der Menschenrechte usw.. Die politischen Freiheiten und soziale Gerechtigkeit sind
kein Produkt des demokratischen Prozesses selbst, sondern sie sind das Ergebnis der freiheitsliebenden und
gerechtigkeitsfordernden Bewegungen und sozialen Kräfte, die es geschafft haben, im Laufe der Geschichte das
Gleichgewicht der sozialen Kräfte, sei es in einem demokratischen Prozeß oder außerhalb eines solchen Prozesses,
zu eigenen Gunsten und zu Gunsten ihrer Ideale zu ändern und Teile dieser Ideale in Recht und Norm umzusetzen.
Wie wir während der achtziger Jahre durch den Aufstieg des Thatcherismus und heute durch den Aufstieg der
faschistischen und rassistischen Kräfte auf den parlamentarischen Bühnen Europas beobachten konnten und können,
ist die Tatsache, daß der demokratische Prozeß selbst, oder zumindest bestimmte Formen davon den Aufstieg oder
sogar die Machtübernahme unmenschlicher raktionärer und despotischer Kräfte begünstigen können.
Das glänzende Bild, das der Kapitalismus durch seine offizielle Ideologie und in seiner politischen Propaganda von
der Demokratie vermittelt, ein Bild, in dem die Freiheit der individuellen (nitiative und Souveränität und eine Art
Grundrecht der Menschen garantiert ist, ist eine liberale und zu einem gewissen Grad sozialdemokratische
Interpretation von der Demokratie. Für viele verursacht dieses abstrakte und theoretische Bild von der Demokratie,
zusammen mit dem Lebensniveau der Mittelklasse in Europa und den USA und dem Nichtfanatismus und mehr
kultureller Toleranz, die aus verschiedenen Gründen in diesen Ländern vorhanden sind, eine traumhafte Vorstellung
von der Demokratie. Wenn z. B. iranische, russische oder ägyptische Intellektuelle Demokratie fordern haben sie
eine solche Vorstellung von der Demokratie. Das ist jedoch lediglich das Bild auf der Verpackung. Aber selbst
wenn der Inhalt mit dem Bild identisch wäre, hätten wir als Arbeiter und Marxisten grundlegende Kritik daran zu
üben. Wir kritisieren den Liberalismus und die liberale Deutung der Freiheit. Die liberale Demokratie ist die
Aushöhlung des Gedank'ens der menschlichen Freiheit; sie ist eine Formel, um die Menschen politisch gegenüber
dem Kapital zu atomisieren und die Diktatur der Kapitalisten-Klasse zu legitimieren. Dies ist ein Aspekt unserer
Position über die Demokratie und muß systematisch in der Gesellschaft verbreitet werden.
Abgesehen von den ausgedachten Versionen von der Demokratie, die für den Export gedacht sind, hat auch
innerhalb der fortgeschrittenen westlichen Länder dieses liberale Bild von der Demokratie nicht viel mit der Realität
zu tun. Die Demokratie in der Praxis, die real existierende Demokratie, ist viel hohler und heuchlerischer als ihr
Bild, welches vom Liberalismus vermittelt wird. Oft wurde dieser Begriff während des Kalten Krieges gegen den
rivalisierenden Bourgeois-Block oder gegen die Sozialisten und Marxisten in den westlichen Ländern offiziell als
Synonym für die Heiligkeit von privatem Eigenum und Markt benutzt. Zum Beispiel war es ein Anliegen des
Thatcherismus, zu versuchen, die Arbeiterinstitutionen als Faktoren darzustellen, die die Demokratie und die
individuelle Freiheit (die Freiheit, jede Arbeit und jede Arbeitsbedingung zu akzeptieren) einschränken. Es wurde
oft darüber berichtet, daß Folterungen bei der Polizei in den westlichen Ländern weitverbreitet ist.
Angesichts der Existenz von inoffiziellen Kreisen, die über die Regierung und dem Parlament stehen und die Politik
beeinflußen, angesichts von geheimen und von oben angeordneten Gerichtsverhandlungen, angesichts von geheimen
und bewaffneten Überwachungsapparaten und -institutionen. angesichts von Medien und einem Journalismus, der
die Kunst der Einschüchterung, Verdummung und Provokation mit Hilfe der technologischen Revolution auf ihren
Gipfel getragen hat, angesichts von Rechtsgerichteten und eines von der Regierung unterstützten und mit der Polizei
verstrikten Mobs, der die benachteiligten Schichten und das linke Spektrum der Gesellschaft in Schach halten soll
usw., ist das Gerede von individueller Freiheit und Menschenrechten in den westlichen Ländern nicht ernst zu
nehmen. Der Durchschnittsmensch in diesen Ländern besser geht, ist in einer armseligen Weise rechtlos,
eingeschüchtert und kann sein eigenes Schicksal nicht beeinflußen. Wollten wir über die Demokratie und wie sie die
individuellen, bürgerlichen und sonstigen Rechte definiert, reden, dann müssen wir entweder über die verschiedenen
Schulen und besonderen Interpretationen dieser Schulen von der Demokratie reden, und das führt uns zu einer
Diskussion über die liberale und parlamentarische Demokratie; oder wir müssen die Demokratie nach ihren
konkreten Funktionen in der heutigen Welt beurteilen. In beiden Fällen wird sich ein Marxist in einer kritischen
Position gegenüber der Demokratie, sei es als Theorie oder als Wirklichkeit, befinden.
Frage: Der liberale Demokratie und dem parlamentarischen System werden laut dem idealisierten Bild, das von
den politischen Verhältnisse in diesem System entworfen wird, eine Schlüsse/position zugewiesen. Welches sind
die Merkmale dieser liberalen Demokratie in ihrer abstrakten Form und ihrer formalen Darstellung?
Mansour Hekmat: Die liberale Demokratie ist ein zusammengesetzter Begriff (oder in gewissem Sinne ein
Modell), der sich auf zwei unterschiedliche Säulen stützt: Demokratie als die Volksherrschaft oder die Herrschaft
der Mehrheit und Liberalismus als eine Reihe von speziellen Ansichten und Urteilen über das politische und
rechtliche Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Das erste und allgemeinste, was viele Leute
unter diesem Begriff verstehen ist, daß Demokratie als ein politisches Regime und Liberalismus als eine Reihe
politischer und bürgerlicher Werte und Maßstäbe interdependent sind. Der erste Begriff stellt die Form und der
zweite den politischen Inhalt des Systems dar. Tatsache ist, daß zwischen den beiden Bestandteilen der liberalen
Demokratie eine permanente Spannung, und letztendlich eine ernsthafte Inkompatibilität besteht, welches die Quelle
wichtiger politischer Auseinandersetzungen und Widersprüche in der Bourgeoisoesellschaft und auf der politischen
Bühne der europäischen Länder ist.
Demokratie bedeutet Vorrang der Entscheidung seitens der Bevölkerung oder der Mehrheit (zunächst lassen wir
eine Diskussion über den Wahrheitsgehalt dieser Aussage in der Wirklichkeit beiseite). Alle Entscheidungen, die
die Mehrheit der Bevölkerung in einem demokratischen Prozeß trifft, z.B. durch ihre Abgeordneten im Parlament,
ist vom Standpunkt der Demokratie her legitim, während der Liberalismus vordefinierte politische und bürgerliche
Werte beinhaltet, und sie als für alle Menschen unverletzbare, natürliche oder bürgerliche Rechte erklärt. Anders
formuliert muß - aus der Sicht des Liberalismus-der Geltungsbereich der Demokratie und der Volksherrschaft
kontrolliert und begrenzt werden. Eine demokratische Entscheidung, die natürliche Rechte verletzt, die vom
Liberalismus beabsichtigt werden, hat aus der Sicht dieser Schule keine Legitimität und keinen Vorrang. Der
Liberalismus funktioniert nicht als Inhalt des demokratischen Staates, sondern als sein einschränkender und
kontrollierender Faktor. Der Liberalismus beschäftigt sich mit der Definition des individuellen Rechts und mit
seiner Verteidigung gegenüber dem Herrscher, dem Staat, oder in einem gewissen Sinne, der "Gesellschatt".
Liberalismus begrüßt den parlamentarischen oder gewählten Staat, weil er, wie auch John Stuart Mill davon
ausgeht, daß der Staat "des Volkes selbst" die bürgerlichen Rechte der Bevölkerung nicht verletzt. Für den
klassischen Liberalismus sind diese Rechte eine primäre Sache, und die Form des Staates eine sekundäre. Aber
diese liberale Annahme ist sowohl in der Theorie als such in der wirklichen Welt nicht sehr zuverlässig. Die
Tatsache, daß das System auf zwei Säulen stehen soll, führt zu inneren Widersprüchen in der Theorie der liberalen
Demokratie und zu wichtigen politischen Auseinandersetzungen auf dem Weg der Entwicklung der liberalen
Demokratien. Wenn Sie genau hinsehen, merken Sie, daß außer England, welches keine Verfassung oder eine
Charta der individuellen und bürgerlichen Rechte hat, sich die anderen parlamentarischen Systeme in der Regel auf
eine Verfassung stützen, die während der Geburtsstunden dieser Systeme in jedem Land geschrieben worden ist,
und deren Änderung im Gegensatz zu den anderen Gesetzen mit einer relativen Mehrheit der Abgeordneten im
Parlament nicht möglich ist. Die Verfassung ist an sich als eineEinschränkung auf dem Weg des demokratischen
Prozesses gedacht. Das bedeutet, daß heute die Stimme der Abgeordneten eines Landes mit mehreren Millionen
Einwohnern z.B. bei der Verabschiedung von Gesetzen im Vergleich zur Verabschiedung von Gesetzen durch ein
früheres Parlament vor einem Jahrhundert in dem gleichen Land mit vielleicht 10% der heutigen Bevölkerungszahl
und mit einem viel restriktiveren Wahlgesetz. eine nebensächliche Funktion hat. Die Mehrheit der heutigen
Generation akzeptiert die Verabschiedung von Gesetzen durch einen vielfach niedrigeren Bevölkerungsanteil als das
vor vier Generationen der Fall war. Demokratisch gesehen ist dies eine Einschränkung und eine Hürde, aber aus der
Sicht des Liberalismus, der vor dem Hintergrund heißer sozialer und politischer Kämpfe der letzten Jahrhunderte
seine Grundsätze und Ideale in den Verfassungen der parlamentarischen Systeme verankert hat, ist dies eine
Errungenschaft und der Garant für das Fortbestehen der individuellen und bürgerlichen Freiheiten in
parlamentarischen Demokratien. Diese Spannung ist tief in der liberalen Demokratie, sei es als ein Gedanke oder als
ein soziales System, vorhanden.
Frage: Welche dieser beiden Säulen, nämlich der Liberalismus oder die Idee der Herrschaft der Mehrheit, stellt
die Quelle und den Hauptgarant für Freiheit in einer parlamentarischen Demokratie dar?
Mansour Hekmat: Beides und keines von beiden. Gemäß der Theorie des Bourgeoisstaates im modernen
Kapitalismus beides, und gemäß der politischen Praxis der Bourgeoisie-Klasse und ihres Staates keines von beiden.
Theoretisch gesehen sind beides lebenswichtige Säulen. Egal, wie stark eine "sorgende und volksnahe" Diktatur sich
den individuellen und bürgerlichen Rechten verpflichtet, kann sie doch nicht als frei bezeichnet werden, weil sie das
Grundrecht des Individuums, sich in die staatlichen Angelegenheiten einmischen zu können, und den Grundsatz
eines Staates, der vom Volk a˜sgehen soll, verletzt. Dies ist die erste Behauptung des demokratischen Gedankens
über politische Freiheit, und sie lautet, daß in einem demokratischen Regime die Macht in den Händen der
Bevölkerung bleibt. Andererseits gibt es keine Garantie dafür, daß in einem demokratischen Prozeß die Mehrheit
der Bevölkerung keine Entscheidungen trifft, die im Widerspruch zu den natürlichen und fundamentalen Rechten,
wie es sich der Liberalismus wünscht, stehen. "Die Diktatur der Mehrheit" ist eine Möglichkeit, vor der Befürworter
der liberalen Schule, wie z.B. Mill, warnen. Deshalb sind beide Elemente für die liberale Demokratie lebenswichtig,
und wie ich schon sagte, versucht die offizielle Ideologie die Zusammensetzung dieser beiden Elemente als die
ideologische Grundlage des politischen System des heutigen Kapitalismus in Europa und den USA darzustellen. Bis
heute verursacht die Tatsache, daß diese Darstellung widersprüchlich ist, keine Probleme in der offiziellen
Propaganda der Bourgeöisie über die Grundlagen und Vorteile des herrschenden politischen Systems im Westen.
Aber praktisch gesehen, soll aus der Sicht der Bourgeoisie keine dieser beiden Säulen die Quelle und der Garant für
die Freiheit der Menschen sein. Es soll vielmehr die Klassenherrschaft der Bourgeoisie, nämlich die Diktatur, eine
Minderheit im Namen des Volkes und der Freiheit legitimiert werden. Sollten die Menschen die Behauptungen
dieser Bestandteile über die Freiheit ernst nehmen, dann wird die Bourgeoisie sie mit Entschiedenheit an deren
wirkliche Bedeutung erinnern. Hier wird genau klar, welche praktischen Vorteile die Tatsache hat, daß sich die
liberale Demokratie auf zwei Säulen stützt. Überall dort, wo die Gefahr bestanden hat, daß die Menschen oder eine
radikale Generation z.B. aus demselben Bourgeoisparlament ein Sprungbrett für die Erziehung bestimmter Rechte
schaffen, hat die Bourgeoisie sie an die Restriktionen der Befugnisse des Parlaments und die Heiligkeit derjenigen
Grundsätze, die unter dem Vorwand der individuellen und bürgerlichen Rechte die Privilegien der Bourgeoisklasse
verteidigen, erinnert. Und überall dort, wo die rechte Stimmung in der Gesellschaft es möglich machte, daß die
reaktionärsten Fraktionen der Bourgeoisie die Parlamente füllen, haben die bürgerlichen Freiheiten keine Gültigkeit
mehr gehabt, und die elementarsten Rechte der Bevölkerung sind unter dem Vorwand "der Stimme des Volkes" und
"der Volksherrschaft" mit Füßen getreten worden. Die Bedeutung und der Vorteil der Demokratie und des
Liberalismus für die praktische Funktion des Bourgeoisstaates liegt nicht in dem freiheitlichen Sinn dieser Begriffe,
sondern in der Trennung dieser Begriffe von der echten Freiheit und darin, daß beide die Freiheit relativ sehen und
aus der Sicht einer bestimmten Klasse interpretieren.
Frage: Welches sind die Grundsätze des Liberalismus, und was ist mit den "natürlichen" Rechten, wie sie vom
Liberalismus befürwortet werden, gemeint? Wie kann der Liberalismus durch diese Rechte die Privilegien der
Bourgeoisie verteidigen?
Mansour Hekmat: Ein Teil dieser Grundsätze sind diejenigen, von denen heute als Selbstverständlichkeit der
Menschenrechte und der bürgerlichen Freiheiten gesprochen wird. Rede- und Gewissensfreiheit, Koalitions- und
Organisationsfreiheit und eine Reihe von individuellen Freiheiten gehören zu den Grundsätzen des klassischen
Liberalismus. Ich erinnere daran, daß ich jetzt vom klassischen Liberalismus als einer Ideologie und nicht von
Liberalen und liberalen Parteien, die sich vielleicht kein bißchen zu diesen Grundsätzen verpflichten, rede.
Liberalismus und die Forderungen und Grundsätze, die mit dem Liberalismus assoziiert werden, wurden ganz oben
auf die Fahne der aufkommenden Bourgeoisie, die gegen den Feudalismus und die Gesetze der absolutistischen
Monarchien gekämpft hat, geschrieben. Damals konnte eine Durchsetzung oder sogar halbherzige Durchsetzung,
und auch eine Anerkennung dieser Rechte auf dem Papier, als natürliche Rechte in der Gesellschaft. als ein
wesentlicher Schritt nach vorn begriffen werden.
Aber damit ist weder diese Problematik behandelt, noch bilden solche Rechte den wesentlichen Bestandteil des
Liberalismus. Die geforderten Freiheiten des Liberalismus im Politik- und Staatsbereich sind in der Tat ein
Spiegelbild und eine Ableitung derjenigen Grundsätze, die diese Schule im wirtschaftlichen Bereich und bezüglich
der Klassen verkündet. Liberalismus als die Ideologie des Kapitalismus und des Vorranges des Marktes ist
gegenüber dem feudalistischen Wirtschaftssystem ins Feld gezogen. Die Heiligkeit des Bourgeoisprivateigentums
und der individuellen Freiheit als die menschliche Verkörperung des privaten Eigentums und als ein wirtschaftliches
Atom ist in den wirtschaftlichen Aktivitäten des Marktes die Grundlage des Liberalismus. Die Par˜eiergreifung der
politischen Theorie des Liberalismus zu Gunsten der individuellen und bürgerlichen Freiheiten ist eine
Widerspiegelung der Parteinahme dieser Ideologie für die politische und wirtschaftliche Freiheit des Bourgeois als
Person in der Realität des Marktes.
Es ist klar, daß diese explizite Klassengrundlage, die sich unverhohlen für die politische Ökonomie des
Kapitalismus einsetzt, nicht nur die Reichweite der Parteiergreifung des Liberalismus für die politischen Freiheiten
und Rechte einschränkt und sie bedingt macht, sondern auch den politischen Freiheiten eine bestimmte Definition
und Interpretation zuweist.
Von den liberalen Grundsätzen ist derjenige Grundsatz, der am heiligsten ist und immer unangefochten bleibt, und
der keineswegs interpretiert und kommentiert wird, das Bourgeois-Privateigentum. Für den Liberalismus ist das
heiligste und "natürlichste" Recht eines Individuums das Recht auf Eigentum. Wenn wir uns klar machen, daß das
Eigentum, das in dieser Weise hochgepriesen wird, sich einerseits auf die Kritik und Ablehnung einer anderen Art
von Eigentum stützt, und andererseits seine Voraussetzung das Vorhandensein einer großen und eigentumslosen
Klasse in der neuen Gesellschaft, die der Liberalismus anstrebt, ist, dann wird klar, wie der Liberalismus in der Tat
die Position und die Macht der Bourgeoisie rechtfertigt und heiligt, und dadurch einen mit dem Kapitalismus
kompatiblen politischen Überbau schafft. Dann wird klar, daß die "bürgerliche Gesellschaft", die vom Liberalismus
verteidigt wird, nichts weiter ist als ein rechtliches Spiegelbild des Marktes, und daß die vom Liberalismus
hochgepriesen "natürlichen" Rechte die Bourgeoisrechte des Individuums und letzten Endes die Privilegien eines
Bourgeois sind.
Liberalismus in seiner ersten und englischen Version basiert auf dem, was man meiner Meinung nach gemäß einer
mechanischen Interpretation "die negative Freiheit" nennt, eine Freiheit von äußerlichen Barrieren und
Einschränkungen (unter anderem von Gesetzen und Vorschriften), die die freie Bewegung des Individuums
behindern könnten. Der Liberalismus definiert die Verteidigung der individuellen Befugnis und die
Handlungsfreiheit des Individuumsgegenüber den Machthabern, dem Staat und der "Gesellschaft" als seinen
Ausgangspunkt. Dadurch bekommen die individuellen Freiheiten und die bürgerlichen Rechte eine neue und
natürlich interessante Bedeutung. Der Vorrang des Individuums und der individuellen Freiheit wird für die
Bourgeoisklasse als Nichtvorhandensein solcher Institutionen und Gesetze interpretiert, welche die freie Bewegung
des Kapitals und des Kapitalisten in der wirtschaftlichen Sphäre einschränken. Andererseits wird bezüglich der
Arbeiterklasse, bei der keine Rede von Eigentum und Verfügungsrecht des Individuums über seine
Produktionsmitteln sein kann, der Vorrang des Individuums als die Notwendigkeit der Individualität und der
Atomisierung des Arbeiters gegenüber dem Kapital übersetzt. Der klassische Liberalismus neigt in Bezug auf das
Kapital zur Privatisierung, und stellt sich gegen jede Art der Einmischung des Staates in die Wirtschaft. Er ist
dagegen, daß sich das private Kapital und der Bourgeois als Individuum von den Gesetzen und Vorschriften, die
jenseits des Marktgesetzes stehen, abhängig machen müssen. Andererseits ist der Liberalismus hinsichtlich der
Arbeiter gegen Tarifverhandlungen und dagegen, daß sich die Arbeiter als Individuum von der Politik, der
Gewerkschaft und der Arbeiterorganisation abhängig machen. Vielleicht danken wir beide, daß, in einer
Gewerkschaft zu sein, dözu dient, daß die "natürlichen" und bürgerlichen Rechte der Arbeiter sich teilweise besser
realisieren können. Für den klassischen Liberalismus heißt. in einer Gewerkschaft zu sein aber, daß die Freiheit des
Arbeiters, als Individuum zu entscheiden, wie er seine Arbeitskraft einsetzen und verkaufen will, verletzt wird.
Dieser offensichtlich reaktionäre Aspekt des Liberalismus und diese rechtsgerichtete Interpretation der individuellen
Freiheit, die unter dem Vorwand der Würdigung des individuellen Verfügungsrechts und der individuellen Initiative
und Bestrebung, die absolute Verantwortung jedes Individuums bezüglich seines Anteils und Schicksals in der Welt
und auf sich gestellt zu sein, propagiert, erreicht in der libertarianischen Schule; die mit dem Thatcherismus und
dem “in sein" des Monetarismus zur herrschenden Schule in den achtziger Jahren wurde, ihren Gipfel.
Die sogenannten zivilisierten und menschlicheren Liberalen in Europa und den USA, die das politische Zentrum in
diesen Ländern bilden, sind diejenigen, die unter dem Druck von Sozialismus und Sozialdemokratie, welche die
politischen Haupttraditionen des Festland-Europas im Gegensatz zu England gewesen sind, die Kategorie der
negativen Freiheit bis zu ihrer letzten und radikalen Konsequenz nicht verfolgen. In diesen anderen Schulen steht
die Freiheit nicht nur mit dem Nichtvorhandensein äußerlicher Hindernisse und einschränkender Vorschriften im
Zusammenhang, sondern hat auch damit zu tun, ob auch die materiellen und geistigen Möglichkeiten für die
individuelle Wahl vorhanden sind. Wir alle dürfen in dieser Welt viele Sachen machen, für die wir nie die materielle
Möglichkeit oder ausreichende Kenntnisse und die Informationen, die für die Ausführung notwendig sind,
bekommen. Dieser Aspekt der Freiheit oder die sogenannte “positive Freiheit", d.h. die Voraussetzung, eine freie
Wahl zu haben, gehört nicht zum Gedankensystem des Liberalismus, sondern ist ein Erbe der sozialen und
sozialistischen Traditionen. Der Aufstieg der Sozialdemokratie und des Wohlfahrtsstaates hat dazu geführt, daß
dieser Aspekt in der politischen Kultur der fortgeschrittenen europäischen Länder zeitweise gestärkt wurde. Dies
sollte die Grundlage für einen Kapitalismus "mit einem menschlichen Gesicht" schaffen. Vielleicht war es dieser
Aspekt, der das politische System der europäischen Gesellschaften und die Demokratie, die an sich in keiner
direkten Verbindung zu diesem "menschlichen Gesicht” steht, für die fntellektuellen und Studierten der
unterentwickelten Länder interessant machte. Gerade der Libertarianismus hat unter der Führung des Thatcherismus
und vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Probleme des Wohlfahrtskapitalismus die Grundlagen dieses Systems
mit dem Hinweis auf die“Volksherrschaft" mit den Stimmen der Bevölkerung erschüttert.
Frage: Könnte man nicht sagen, daß die Kategorie der positiven Freiheit, die scheinbar einen freien Raum für
die Chancengleichheit der Individuen und die Verantwortung der Gesellschaft und das Bewul3tsein schafft, ein
besserer Ausgangspunkt für die Definition der politischen Freiheit ist?
Mansour Hekmat: Wie ich schon gesagt habe, hat diese Trennung als eine Basisdefinition an sich für das
Verständnis der Kategorie Freiheit wenig Gültigkeit. Die englische liberale und die europäische
sozialdemokratische Tradition haben beide gezeigt, daß sie sowohl analytisch als auch in der politischen Praxis der
Gesellschaft bis heute in der Lage gewesen sind, die wirklichen Freiheiten der Menschen zu verdrehen, und unter
dem Vorwand der Errichtung eines freien politischen Regimes, eine noch grundlegendere Klassenunterwerfung in
der Gesellschaft und eine allgemeine und offensichtliche politische Rechtlosigkeit durchzusetzen. Die positive und
negative Freiheit werden beide im Rahmen eines Bourgeois-Verständnisses vom Menschen und von der Freiheit des
Menschen und vor dem Hintergrund einer Gesellschaft, die in Klassen aufgeteilt ist, definiert. Das
Nichtvorhandensein politischer und rechtlicher Hindernisse auf dem Weg des Individuums zur freien Vollstrekkung
seines Willens, wobei die politische Ökonomie der Gesellschaft bereits die Menschen in zwei Klassen nämlich
herrschende und beherrschte, aufgeteilt hat, bedeutet nichts anderes, als eine zügellose Freiheit der herrschenden
Klasse und deren freie Hand im Angriff gegen die Arbeiterklasse und die Vereinzelung und absolute
Unbeweglichkeit der Menschen der beherrschten Klasse gegenüber den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen,
deren Änderung vollkommen außerhalb ihres Einflußbereiches zu liegen scheint. Die negative Freiheit des
Liberalismus, welche Rolle sie auch immer einmal gegenüber den absolutistischen Monarchien der vorherigen
Jahrhunderte gespielt haben mag, ist in der heutigen Welt, gemessen an allen seriösen freiheitlichen Maßstäben,
eine unklare und ungültige Kategorie.
Andererseits setzt "die positive Freiheit” voraus, daß eine soziale Institution und Sachverständige vorhanden sind,
die die notwendigen mate r iellen und geistigen Bedürfnisse der Menschen festlegen, um überhaupt eine freie
Entscheidung im politischen und bürgerlichen Bereich treffen zu können. Wieviel und was für eine Bildung muß
man haben, um in der Lage zu sein, während einer Wahl wirklich eine freie Entscheidung treffen zu können?
Wieviel Information und was für eine Information ist notwendig, damit man frei von Zwängen bezüglich der
Staatspolitik - von der Kriegserklärung bis hin zur Finanzpolitik- eine Position beziehen kann? Welche Maße hat
eine Unterkunft, die es dem Menschen ermöglicht, sein "natürliches” Recht bezüglich seiner privaten Sphäre, die
unverletzbar ist, wahrnehmen zu können? Wieviel Stunden am Tag kann ein Mensch arbeiten, ohne daß sein
natürliches Recht, seine geistigen und seelischen Bedürtnisse befriedigen zu können, verletzt wird ˜ Die Kategorie
der positiven Freiheit und BourgeoisSozialismus haben traditionell dazu geführt, daß der Staat als der
Verantwortliche für die Verwirklichung dieses Minimums, und zwangsläufig als der Sachverständige zur Festlegung
der Maßstäbe, einschreitet. Aber vergessen Sie nicht, daß die Gesellschaft eine Klassengesellschaft und der Staat ein
Bourgeois-Staat ist. Deshalb reduziert sich alles darauf, daß diesmal die bürgerlichen Einschränkungen der Rechte
und Freiheiten der Menschen nicht durch die blinden Gesetze des Marktes, sondern durch die Institution Staat in die
Tat umgesetzt werden. Unter dem Vorwand, das Individuum vor der Rechtlosigkeit, die durch einen unkontrollierten
Kapitalismus und Markt verursacht wird, schützen zu wollen, werden offiziell der Lebensstil, die Denkweise und
die Wahl der Menschen durch die politischen und kulturellen Institutionen der Bourgeoisgesellschaft bestimmt.
Außerdem sollten wir uns klar machen, daß nach der Informatik- und Elektronikrevolution während der letzten
Jahrzehnte, die Massenmedien und der offizielle Journalismus die Hauptlast der Verdummung und Einschüchterung
der Menschen, welches früher eine Aufgabe der Kirche, Armee und Polizei war, mit moderneren Formen und "ohne
Berührung” übernommen haben. Unter dem Vorwand der Erreichbarkeit der Information für eine richtige und freie
Entscheidung, die selbst die Voraussetzung für die positive Freiheit ist, ist die Fehlinformation offiziell zu einem
untrennbaren Bestandteil des Lebens der Menschen geworden. Je größer der Bildschirm ihres Fernsehgerätes ist,
desto manipulierter und hohler sind ihr politischer Wille und ihre politische Selbständigkeit.
Das praktische Produkt dieser Schulen ist bezüglich der Freiheit nicht weniger schrecklich als das des Liberalismus.
In den Ländern, in denen der Bourgeois-Sozialismus in verschiedenen Formen die Oberhand gehabt hat, wie z.B. in
der ehemaligen Sowjetunion oder in Nordeuropa, ist das Individuum sicherer und geschützter, aber gleichzeitig auch
vom Bourgeois-Staat abhängiger und in seinem Leben mehr von ihm beeinflußt. Die rechtlichen Vollmachten des
Bourgeois-Staates zur Beeinflußung der wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Parameter der Menschen sind
viel größer. Der Staat baut eine vormundschaftliche Beziehung zu den arbeitenden Massen auf, und schafft sich
dadurch die Möglichkeit ihren Kurs des Klassenkampfes sehr stark einzuschränken. In solchen Gesellschaften ist
das Individuum viel gesichtsloser und geformter. Es ist gegenüber den "Wahrheiten", die von oben fabriziert
werden, gegenüber dem für es bestimmten Lebensstil und den politischen und wirtschaftlichen Szenarien, mit denen
es konfrontiert wird, sehr hilflos und hat kapituliert.
Solange wir eine Klassengesellschaft haben und solange der Staat und die herrschende Ideologie bourgois und ein
Instrument zur Erhaltung der Herrschaft der Bourgeoisie sind, bleiben diese, unabhängig davon welche Definitionen
die Bourgeois-Schulen von der Freiheit geben, ein Bestandteil des Mechanismus und des Apparates, der für die
Einschränkung der Freiheit der arbeitenden Menschen in der Gesellschaft vorgesehen ist. Es ist nicht möglich,
gleichzeitig eine herrschende Klasse und wirkliche politische Freiheit zu haben. Die Klassengesellschaft kann keine
freie Gesellschaft sein.
Es besteht kein Zweifel daran, daß in den parlamentarischen Systemen das Individuum mit politischen Optionen
konfrontiert wird, oder die Wahl hat, sich in dieser oder jener Weise in das politische Leben der Gesellschaft
einzumischen. Und weiter besteht auch kein Zweifel daran, daß der Mensch die Freiheit hat, im Rahmen der
Alternativen, die zur Wahl stehen, eine zu wählen. Das Problem ist aber, daß in einer Klassengesellschaft die
po(itischen Optionen, die die Menschen haben oder die Kanäle, die ihm für die politische Einflußnahmen zur
Verfügung stehen, gemessen an den Standards einer wirklichen Freiheit des Menschen, alle unecht und wertlos sind.
Zunächst werden wir als Serben, Kroaten, Araber, Kurden, Moslems, Christen, Weiße, Schwarze, Männer und
Frauen, Beschäftigte, Arbeitslose usw. definiert. oder das Bewußtsein und die Identität eines jeden von uns wird als
Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe, einer Rasse. einer Religion, einer sozialen Gruppe oder als Einwohner
eines bestimmten Landes definiert. Dann bekommen wir, diese sprachlosen Kreaturen der herrschenden Ideologie,
die “freie" Wahl, uns zu entscheiden, ob wir als ein Haufen fanatischer, provozierter und eingeschüchterter
Menschen in der Nation der Rasse in unserer Nachbarschaft Erzfeinde oder lediglich Wirtschaftskonkurrenten sein
wollen? Zuerst wird die politische Bühne der Gesellschaft für einen parlamentarischen Wettbewerb der linken und
rechten BourgeoisParteien und unter dem starken Einfluß der meinungsbildenden Medien und Apparate der
herrschenden Klasse eingerichtet, und dann werden wir gebeten - und auch das nicht mit viel Nachdruck - alle paar
Jahre wieder einen von ihnen zu wählen. Das Referendum über die Unabhängigkeit Litauens oder über das
Abkommen von Maastricht, die Wahlen in Algier usw. sind natürlich ein Zeichen von Demokratie und einer
individuellen Befugnis. Aber die Optionen, die die Menschen haben, sind an sich sklavisch.
Ich bin der Meinung, daß die notwendige Voraussetzung für die Freiheit die Revolution gegen die
Klassenknechtschaft und -ausbeutung ist. Eine ungleiche Gesellschaft, also eine Gesellschaft, die die Ungleichheit
als eine ihrer grundlegenden Merkmale reproduziert, kann nicht der Träger der Freiheit und der Befugnis des
Menschen sein. Die liberale Demokratie und das parlamentarische System, unabhängig davon, auf welche
Bedeutung der Freiheit sie sich als ihr ideologisches Erbe berufen, sind ein politisches Regime für die Organisierung
dieser Gesellschaft und für die Diskriminierung, auf der sie aufgebaut ist.
Frage: Sie haben schon die westliche Demokratie erwähnt und meinten, dal3 man ihren Unterschied zur
liberalen Demokratie kennen muß. Erläutern Sie das bitte näher.
Mansour Hekmat: Im Gegensatz zur liberalen Demokratie oder dem Liberalismus, Parlamentarismus usw., fehlt
der "westlichen Demokratie” ein philosophischer und theoretischer Bezugspunkt. Diese Kategorie ist das Produkt
einer bestimmten politischen Auseinandersetzung in der modernen Zeit, nämlich die Rivalität zwischen Ost und
West und dem Kalten Krieg zwischen den beiden gewesen. Mit der "westlichen Demokratie" ist in erster Linie ein
politischer Block und kein System gemeint. Dieser Begriff wurde durch den ideologischen Apparat des Westens und
in erster Linie durch die westlichen Politiker während der Auseinandersetzung mit dem Osten und dem
herrschenden wirtschaftlichen und politischen System im Ostblock angewandt. Übrigens wurde mit dem
zunehmenden Fieber der westlichen und europäischen Identität in den letzten Jahren, und besonders nach dem
Zusammenbruch des Ostens, die westliche Demokratie inhaltlich ein wenig präzisiert. Früher bedeutete die
Zugehörigkeit eines Landes zum Lager der westlichen Demokratie, das man die freie Welt nannte, weder unbedingt,
daß diese Länder europäisch oder amerikanisch waren, noch daß dort ein Parlament vorhanden sein mußte oder daß
die Herrschaft legal war. Mit ein wenig Großzügigkeit reichte die Zugehörigkeit zum westlichen Lager, damit man
diesen Titel bekommen konnte. Die westliche Demokratie war keine bestimmte politische Praxis, sondern sie war
die Unterstützung einer Reihe von grundsätzlichen politischen und kulturellen, und noch wichtiger, wirschaftlichen
Werten, deren Hauptsymbole und Verteidiger die USA und Europa waren. Deshalb war der Kern dieser Kategorie
die Heiligkeit des Privateigentums und die Zugehörigkeit zum westlichen Lager während des Kalten Krieges bis hin
zur Mitgliedschaft in einer der von den USA abhängigen militärischen Bündnisse. Es ist klar, daß die politischen
Modelle der USA und des westlichen Europa parlamentarisch waren und vom Liberalismus beeinflußt wurden. Man
konnte dies aber nicht mit derselben Sicherheit über Israel, den kaiserlichen Iran, die Philippinen, Japan, Chile,
Griechenland, die Türkei usw., also über die Ehren- oder Ersatzmitglieder der Welt der westlichen Demokratie,
sagen. Kurz gesagt: ich meine, daß die Kategorie der westlichen Demokratie eher ein Instrument in der politischen
und ideologischen Auseinandersetzung zwischen den beiden Blöcken war als ein Kategorie des politischen Rechts
oder der politischen Theorie.
Aber wie ich schon gesagt habe, ist diese Kategorie heute dabei, einen theoretischen Inhalt zu bekommen, obwohl
diese Kategorie immer noch mit einer bestimmten Art von "Zivilisation”, Lebensniveau und "Kultur” assoziiert
wird, bevor sie politische Formen, Strukturen und Normen beschreibt. Die westliche Demokratie repräsentiert eine
bestimmte Art des Lebens und nicht nur oder unbedingt ein bestimmtes politisches Regime. Es scheint heute so zu
sein, daß die westlichen politischen Kommentatoren die Kategorie der westlichen Demokratie hauptsächlich für
kapitalistische Länder mit fortgeschrittenen Industrien und hohem Konsumniveau, also für diejenigen Länder
benutzen, in denen das reaktionäre Stammessystem und die nationalen und religiösen Traditionen von der
individualistischen Kultur und Konkurrenzkultur des industriellen Kapitalismus überschattet worden sind, und
besonders die Bourgeoisideologie sich zu einer derart handfesten Kraft gewandelt hat, daß sie in der Lage ist, die
akuten politischen und kulturellen Turbulenzen in diesen Ländern unter Kontrolle zu bringen. Abgesehen davon,
wie gut das Parlament Indiens auch sein mag und wie wenig dort während der Wahlen betrogen wird; mit dem
Aussehen der Leute dort und den Stammesund Religionskriegen, die dort stattfinden, ist Indien kein Beispiel für die
“westliche Demokratie". Aber Japan, selbst wenn alle seine Politiker Gangster und von den Konzernen bestochen
worden wären, bleibt eine Insel der westlichen Demokratie im fernen Osten, genauso wie vielleicht Südkorea und
Taiwan.
Ich denke, daß die westliche Demokratie deshalb interessant ist, weil sie uns zeigt, was das "Oben" von der
Demokratie will und was es daraus unter diesem Namen macht. Diese Kategorie ist viel ernster und echter als die
Legende von der Demokratie, mit der die liberalen Intellektuellen der Gesellschaft die Menschen, sei es in der
Politik oder in Hochschulen, vollstopfen.
Frage: Welches ist der Kern der marxistischen Kritik an der liberalen und parlamentarischen Demokratie als
eine Rahmenbedingung für die praktische Realisierung der politischen Freiheit in der Gesellschaft?
Mansour Hekmat: Ich werde mich über die Kategorie der Freiheit später äußern. Aber was als erstes über das
Modell der liberalen Demokratie beachtet werden muß, ist, daß obwohl der Liberalismus und die Idee der
parlamentarischen Demokratie, wie alle anderen Formen der Bourgeoisideologien und sozialen Theorien, versuchen,
ihren Klassencharakter zu verheimlichen, und sich als allgemeine und “menschliche" Grundsätze und Wahrheiten zu
präsentieren. ihr Klasseninhalt und ihre Rolle in der Organisierung der Bourgeoisherrschaft sehr leicht zu
durchschauen bleibt. Wie ich schon sagte, ist der Liberalismus eine abgeleitete Ideologie vom Bourgeoiseigentum
und dessen Beschützer. Der Liberalismus ist die Übersetzung des Marktmechanismus und dessen Voraussetzungen
in die juristische Sprache und in die Sprache der politischen Theorie. Die liberale Demokratie mit ihrem Parlament,
ihren Wahlen usw. ist ein System und der politische Überbau einer Gesellschaft, deren grundlegende Merkmale
bezüglich der Verhältnisse zwischen verschiedenen Teilen der Gesellschaft mit der politischen Macht auf einer
tieferen Ebene festgelegt worden sind. Die herrschende Ideologie bestimmt nicht den Charakter der politischen
Macht, sondern rechtfertigt sie, selbst davon inspiriert. Deshalb ist die liberale Demokratie genau das Gegenteil von
dem was behauptet wird: sie ist keine Rahmenbedingung für die Beteiligung der Massen am Staat und an der
politischen Macht, sondern sie ist eine Rechtfertigung und ein Mantel, der über die Machtausübung einer Klasse
gedeckt wird, also einer Minderheit in der Gesellschaft. Sie ist kein Garant für die Immunität der kollektiven oder
individuellen Grundrechte der Menschen gegen die Eingriffe und die Willkür der Machthaber, sondern sie bedeutet
Gesetze und Vorschriften, die die Negation und Beraubung dieser Rechte legitimiert. Demokratie ist eine Kategorie,
die sich mit der Legitimität des Staates, und nicht mit seiner Einsetzung oder der Bestimmung seines politischen
Charakters befaßt. Ein demokratischer Staat ist ein Staat, dessen Legitimität und Legalität auf den Stimmen der
Bevölkerung beruht. Aber das Vorhandensein des Staates an sich, seine Macht und die Interessen, die er verfolgt,
und die Klassen, die daran beteiligt sind, werden alle weder durch Wahlen und ein Parlament bestimmt, noch durch
sie geschützt. Dies findet außerhalb des demokratischen Prozesses und vor dem Hintergrund eines Klassenkampfes,
der viel umfassender ist, mit anderen Instrumenten statt.
Die liberale Demokratie ist ein Formel, die dazu dient, die vorhandene Herrschaft der Bourgeoisie zu legitimieren
und ihren Klassencharakter zu dekken. Aber es ist diese Herrschaft als solche, die die Freiheit verletzt und im
Widerspruch zu ihr steht. Die liberale Demokratie oder jede andere politische Schule, die den ideologischen und
administrativen Rahmen für diese Herrschaft liefern will, haben mit derselben Begründung mit der Freiheit nichts
gemeinsames.
Das Parlament, die Verfassung, die liberalen Traditionen, Gesetze usw. sind sogar in den fortgeschrittenen
westlichen Demokratien weder die Säulen der politischen Macht, noch der Hauptschauplatz, an dem sich diese
politische Macht konkretisiert. Die Bourgeoisherrschaft stützt sich hauptsächlich auf Gewalt oder auf die
Bedrohung der Bevölkerung durch Gewalt. Unterdrückung, Einschüchterung und Verdummung sind der Kern des
Bourgeoisstaates. Die bewaffneten Unterdrückungskräfte, seien es die offizielle Armee und Polizei oder die
geheimen Unterdrückungsapparate und die Gerichte, Gefängnisse und das gesamte Verhandlungs- und Strafsystem,
sind die Hauptkanäle der Machtausübung und der Garant für ihre Beibehaltung. Die zentralen politischen
Entscheidungen werden in verschiedenen Cliquen und Kreisen der herrschenden Klasse und durch die inoffiziellen
Institutionen und Ämter der Bourgeoisie getroffen, und zwar in der Art und Weise, daß, selbst wenn man ein
gewählter Abgeordneter ist, das keine Garantie dafür ist, daß man davon unterrichtet wird, geschweige denn daran
teilnehmen kann. Oft ist nicht einmal das Parlament das Instrument dafür, diese Gesetze der Bevölkerung in einem
demokratischen System schmackhaft zu machen. Dies ist hauptsächlich die Aufgabe der Medien und des
Propagandaapparates der herrschenden Klasse.
Die Grundrechte der Bürger, ihre Verteidigung und ihr Bestehen aber haben direkt mit der wirtschaftlichen ünd
politischen Toleranz und Sorglosigkeit der Bourgeoisie zu tun. Es gibt keine Demokratie in der Welt, in der der
"Ausnahmezustand" und Belagerungszustand sowie das Außerkraftsetzen bürgerlicher Rechte nicht in ihren
Gesetzen oder in ihrer rechtlichen Tradition vorgesehen worden ist. Man darf keinen Zweifel daran haben, daß sogar
nach einem no˜malen Wahlsieg des linken Flügels der Labour Party in England, der Startschuß zum Angriff seitens
der Armee und der Geheimpolizei, um einen gewaltsamen und außergesetzlichen Umsturz der gewählten Regierung
zu erreichen, sofort nach den Wahlen fallen wird. Der Sinn der Könige und Königinnen, die mit gewaltigen Kosten
in den Palästen der westlichen Demokratie konserviert worden sind, ist, daß sie an diesem Tag als die höchsten
Repräsentanten des Landes, der Heimat und der Armee gegen "den Mißbrauch der Demokratie durch die Linken"
einschreiten können. Ich will damit sagen, daß selbst der Nutzen der liberalen Demokratie als eine formale
rechtliche Rahmenbedingung für die Bourgeoisherrschaft oder als Garant der individuellen und bürgerlichen Rechte
auf krisenfreie und gewöhnliche Zeiten beschränkt bleibt. In Krisenzeiten, also in einer Periode, in der sich die
Klassenauseinandersetzung verschärft und der sozialistische Sieg der Arbeiterklasse auch nur als ein potentielle
Bedrohung für die herrschende Klasse spürbar wird, wird alles innerhalb einer Nacht aufgeräumt.
Auf jeden Fall ist das parlamentarische System ein indirekter Mechanismus für die Einmischung der Menschen.
Nicht die Menschen selbst, sondern von ihnen Beauftragte sollen sich an der Herrschaft beteiligen. Diese
Abgeordneten im parlamentarischen System sind keine "gebundenen Abgeordneten". Das heißt, daß sie nicht
verpflichtet sind, die Wünsche ihrer Wähler über verschiedene Themen zu reflektieren, sondern daß sie in
Parlamenten und gesetzgeberischen Gremien ihre eigene Meinung vertreten. Anders formuliert: die Menschen
wählen diese Abgeordneten nicht als ihre Vertreter oder Sprecher, sondern als ihren Ersatz im Staat. So gesehen ist
der Wahlprozeß ein Prozeß, bei dem sich der Staat legitimieren läßt, und kein Prozeß, bei dem sich die Menschen in
die Politik einmischen. Und dies ist, wie ich schon gesagt habe, das Hauptthema der Demokratie: die Errichtung
einer Herrschaft, die formal vom Volk ausgeht.
Die Wahlen sichern diesen Anspruch für die herrschende Klasse. Alle paar Jahre lassen ihre Abgeordneten sich
bestätigen und verschwinden dann wieder. Der Wähler ist eine zählbare Einheit, wie in einer regelmäßigen
Volkszählung, und nicht ein bestimmter Mensch mit einer bestimmten Meinung, der zwischen den Wahlen auch
noch lebt und eine Meinung hat. Er wird weder gefragt, noch hört man ihm zu. Er ist hilflos und kann bezüglich der
Gesetze, die die Abgeordneten innerhalb der vier Jahre bis zu den nächsten Wahlen verabschieden und dadurch über
sein Leben bestimmen, nichts ändern. Er kann natürlich in dieser Zeit protestieren, vorausgesetzt er stiftet keine
Unruhe in der Stadt und seine Aktivitäten stören die normalen Abläufe der Gesellschaft nicht, und stellen keine
ernste Bedrohung für die Bourgeoisie als Politiker und Geschäftsleute dar. Sonst würde er, wie die englischen
Bergleute, seine Berechtigung als Nutznießer der bürgerlichen Rechte verlieren.
Frage: Es gibt Richtungen, die das parlamentarische System wegen der Inkonsequenz in den demokratischen
Forderungen kritisieren, wie zum Beispie! die nicht Abwählbarkeit der Abgeordneten durch ihre Wähler, das
Monopol der Bourgeoisie über die Propagandamaschinerie, die hohen Kosten für die Teilnahme an den Wahlen
a/s Kandidat oder sogar manchmal a/s Wähler, die Machtübernahme von Regierungen, die praktisch nur durch
einen geringen Anteil der Bevölkerung gewählt werden, sei es, weil die Wahlbeteiligung zu niedrig war, oder
wegen der Verteilung der Sitze entsprechend der Stimmen der Parteien usw. Welchen Stellenwert und welche
Bedeutung haben solche Kritiken in Ihrer Diskussion?
Mansour Hekmat: Sie sind keine radikalen Kritiken an diesem System. Manche Einwände, wie z.B. der Protest
gegen Wahlsysteme wie in England, wo die Sitze im Parlament nicht im prozentualen und direkten Verhältnis zu der
Gesamtstimmenzahl verteilt werden, können überhaupt nicht als Kritik angenommen werden. Vor allem die
Bourgeoisdenker selbst diskutieren diese Fehler sehr ausführlich aus, und mit dem Hinweis auf die Grundsätze der
Demokratie und den Liberalismus diskutieren sie das pro oder contra dieser Punkte. Das Hauptproblem, und meiner
Meinung nach ist dieser Punkt der Kern der marxistischen Kritik an diesem System, ist die Trennung des Staates
und der politischen Macht von der politischen Ökonomie und dem Klassenkampf in der Gesellschaft, und die
Lieferung einer rein juristischen und administrativen Interpretation vom Bourgeoisstaat. Die Vorstellung, daß es die
Menschen sind, die nun in einem mehr oder weniger freien und fairen Prozeß mit ihren Stimmen die Regierung
wählen, ist ein gefälschtes Bild. Der Klassenbesitzer des Staates wurde bereits auf der Basis der Verteilung der
Wirtschaftsmacht, der Herrschaft des Kapitals über die Produktion und das soziale Leben und auf der Basis des
ideologischen Gleichgewichts der Gesellschaft und des Selbstbewußtseins der Menschen bestimmt.
Wichtiger als die Wahlen und das Parlament wurden die bewaffneten Bourgeoiskräfte für die gewaltige
Verteidigung dieser Macht und dieses Staates ins Leben gerufen. Es gibt geschriebene oder ungeschriebene
Strafrechte und -gesetze, die die Macht der Bourgeoisie und die Unantastbarkeit des Bildes der Bourgeoisie von der
Gesellschaft verteidigen, und außerdem Gerichte und Gefängnisse, die die Einhaltung dieser Gesetze garantieren
sollen. Durch die Wahlen wird klar, welche Partei oder Gruppe von Personen oder welche Strömung mit welchen
unterschiedlichen Programmen und Verfahrensweisen die Steuerung dieses Systems und die Bestimmung seiner
exekutiven Prioritäten für eine Periode übernehmen wird.
Kritiken dieser Art, die übrigens mit einer gewissen Sympathie für die Linken vorgebracht werden, verschleiern die
Hauptgründe des Mißerfolgs der radikalen Linken in den parlamentarischen Systemen, und bestärken die
parlamentarischen Illusionen der Linken besonders in den europäischen Ländern. Der Hauptgrund, warum die
radikalen Linken durch die Wahlen, gegen die Vorstellung der demokratischen Kritiker der parlamentarischen
Demokratie kaum etwas erreichen, ist nicht, daß sie kein Geld für Wahlwerbung haben, oder der Wahlprozeß
undemokratisch ist oder die mathematische Formel der Verteilung der Sitze zugunsten der großen Parteien ist usw..
Der Grund ist, daß der Wähler und vor allem die Masse der Arbeiterklasse selbst, ein realeres und desillusorisches
Bild vom Stellenwert der Wahlen und des Parlaments in ihrem Leben haben. Sie wissen, daß die Wahlen nicht das
Instument für grundlegende Änderungen in der Gesellschaft sind, daß die Klassenbesitzer der politischen Macht
nicht durch die parlamentarischen Wahlen bestimmt werden, daß man vom Parlament höchstens einige positionale
Reformen erwarten kann, daß es bei Wahlen nicht um das Sein oder Nichtsein des Kapitals und des Kapitalismus
geht, sondern daß es darum geht, wie sich ihr Anteil an der bestehenden Gesellschaft zwischen den Wahlen ändert.
Sie wissen, daß die parlamentarischen Wahlen lediglich eine wahrhaftige Reflektion der Kräfteverhältnisse sein
werden, die bereits außerhalb des Parlaments und der Demokratie zwischen den Klassen vorhanden sind.
Es mag sein, daß die Arbeiter ganz bewußt gegen den Kapitalismus sind, aber während der parlamentarischen
Wahlen wählen sie generell nicht die Parteien, die eine Revolution gegen das Kapital anstreben, sondern den linken
Flügel der Bourgeoisie selbst. Gerade diejenige Partei wird gewählt, die die Position der Arbeiter ihrer Meinung
nach gegenüber dem tätigen Kapital verbessern könnte. Schließt man radikale Änderungen aus (und das tun die
Menschen wegen der routinemäßigen Wahlen, wegen des als zentral empfundenen Parlaments und wegen der
nichtrevolutionären Zeiten); dann ist es sehr natürlich, daß die benachteiligten Schichten, die sich nun mit Reformen
zufrieden geben müssen, die Persönlichkeiten und reformistischen Parteien der herrschenden Klasse wählen würden,
die ihrer Meinung nach die besseren objektiven Voraussetzungen für die Durchsetzung dieser Reformen haben. Das
Problem der Linken ist nicht, daß die Sitze im Parlament nicht im direkten Verhältnis zu den abgegebenen Stimmen
für die jeweiligen Parteien vergeben werden, oder daß die trotzkistische Partei um die Ecke nicht die gleiche Chance
hat, Wahl-Werbespots im Fernsehen zu bekommen, damit sie einen Abgeordneten aus den 400 bestimmen kann.
Das Problem ist, daß in nichtrevolutionären Zeiten der Arbeiter in der Regel jemanden, der aus einer revolutionären
Überzeugung für 4 Jahre Abgeordneter im Parlament werden will, nicht als einen passenden Vertreter, der seine
tagtäglichen Interessen durch dieses bestimmte Gemium vertreten soll, empfindet. Die Leute kennen, außer in Zeiten
revolutionärer Krisen (in solchen Zeiten ist das Parlament auch nicht das gesetzgeberische Gremium, sondern wird
als eine Tribüne für politische Agitation und politische Manöver benutzt), die parlamentarischen Spielregeln und
beachten sie. Eine wichtige Spielregel lautet: der Klassensieger dieses Spiels steht schon fest, sonst darf gar nicht
gespielt werden.
Frage: Dann machen Ihrer Meinung nach solche Reformen im parlamentarischen System dieses nicht der
marxistischen Vorstellung von der Freiheit ähnlicher...
Mansour Hekmat: Das Thema Demokratie aus der Sicht des Marxismus wird in einem völlig anderen
Zusammenhang behandelt. Das Thema, mit dem die Demokratie sich beschäftigt ist "der legitime Staat". Aber
Freiheit ist nicht eine Kategorie, die mit der Staatsform und dem Verhältnis zwischen Staat und Individuum im
Zusammenhang steht, sondern eher mit dem Staat als solches und seiner Daseinsberechtigung. Der Kerngedanke
zum Thema Freiheit ist die Klasse, die Ausbeutung und die Klassenunterdrückung als die Quellen des Staates. Die
Voraussetzung für die wirkliche Freiheit der Menschen ist das Verschwinden der Klassen, die Beendigung der
Ausbeutung eines Teils der Gesellschaft durch den anderen, die Beseitigung der materiellen Grundlagen der
Unterdrückung und der Freiheitsberaubung und infolgedessen das Aussterben des Staates als ein Instrument zur
Durchsetzung bestimmter Interessen und zur Aufrechterhaltung der Klassenherrschaft. Das parlamentarische System
wird diesem Gedanken nicht nur einen Millimeter näher kommen, sondern ist selbst eine Hürde, die die menschliche
Gesellschaft auf dem Weg zur vollkommenen und wirklichen Freiheit überwinden müßte.
Aus der marxistischen Sicht ist die Kategorie Freiheit nicht in das Reich der Politik und Wirtschaft oder
Gesellschaft und Subjekt aufteilbar. Befreiung ist eine vollkommene Befreiung; sowohl eine interne als auch eine
externe. Derselbe Prozeß, der die exernen Hürden, die die Ausübung des freien Willens der Menschen einschränkt,
beseitigt, beseitigt auch die Entfremdung der Menschen und alle diejenigen "materiellen" Interessen und falschen
Werte, die die Menschen dazu bringen, die Ungleichheit und Knechtschaft und die Aufteilung der Menschen in
Unterdrücker und Unterdrückte zu akzeptieren. Die Gesetze und das Bedürfnis, Gesetze zu haben, werden beide
verschwinden. Derselbe Prozess, der zur Gleichheit führt, wird Menschenliebe und tiefe Respektierung des
Wohlbefindens und der Freiheit anderer Menschen hervorrufen. Man kann nicht einen Lohnzahler, der an seine
Gewinne denkt, und einen Lohnempfänger, der gezwungen ist; zu arbeiten, haben, und gleichzeitig politisch frei
sein. Man kann nicht obere und untere Klassen haben, und gleichzeitig Fanatismus und Ignoranz, Unterdrückung
und Verbrechen nicht haben. Die wirkliche Freiheit kann nur das Ergebnis der sozialistischen Umwälzung der
Gesellschaft und der Beendigung der Epoche der Klassenbarbarei der Menschen sein. Die wirkliche Freiheit ist ein
gesellschaftsweiter und umfassender, und kein juristischer und administrativer Gedanke. So gesehen ist die
wirkliche Freiheit keine Thema, mit dem sich die Demokratie beschäftigt, weil die Demokratie und der Liberalismus
die bürgerlichen sozialen und wirtschaftlichen Grundlagen, das Vorhandensein von Kapital, Profit, Lohn, Markt und
Privateigentum voraussetzen, und sich dann mit dem administrativen und politischen Überbau der Gesellschaft
auseinandersetzen.
Frage: Hat ihre Kritik an der Demokratie nicht einen periodischen Charakter? Ich meine damit, hat nicht etwa,
historisch gesehen, die Entstehung der Demokratie eine Grundlage für die Achtung der wirklichen Freiheit der
Menschen geschaffen, oder kann es nicht heute noch so sein? Ist die Kritik der heutigen Marxisten an dieser
Denkweise und diesem System eine Kritik an einem veralteten System oder eine Kritik an seiner grundsätzlichen
und permanenten Unvereinbarkeit mit der wirklichen Freiheit?
Mansour Hekmat: Sie ist eine Kritik an beiden Aspekten. Meines Erachtens gleicht unsere Kritik am Liberalismus
und an der Demokratie von der Substanz her unserer Kritik an der kapitalistischen Produktionsweise. Wenn der
Leibeigene von seiner Abhängigkeit vom Land und dem Joch des Feudalherren befreit und zu einem "freien
Arbeiter" wird, der nun seine Arbeitskraft frei verkaufen kann, ist das ein historischer Fortschritt.
Aber keiner verwechselt die Kategorie äfreier Arbeiterä, die inWirklichkeit einen eigentumslosen Menschen
darstellt, dergezwungen ist seine Arbeitskraft zu verkaufen, mit den wirklichen Freiheiten der Menschen im
wirtschaftlichen Bereich. Die Entstehung der Demokratie und die Herausbildung bürgerlicher Rechte nach liberalen
Grundsätzen, und das Zustandekommen von Kategorien wie Individuum und Bürger als die formale Basis fürdie
Legitimierung des Staates, waren zwar ein historischer Fortschritt gegenüber den absolutistischen Staaten, aber im
Vergleich zur wirklichen Freiheit und der Vorstellung der sozialistischen Bewegungen von dieser Freiheit mit allen
ihren Illusionen und Unklarheiten, die sie von der wirklichen Freiheit haben, müssen als Rückschritt bezeichnet
werden. Sozialismus und Demokratie sind Ideen gewesen, die während der gesamten Geschichte des Kapitalismus
nebeneinander existiert und sich entwickelt haben; zwei Bewegungen nebeneinander und im Wettbewerb
miteinander und natürlich oft miteinander vermischt. Deshalb sind die sozialistische an der Demokratie und die
sozialistische Alternative so alt wie die Demokratie selbst. Die inhaltliche Kritik des Sozialismus an der
Demokratie, die eigentlich eine Kritik an der bürgerlichen Auffassung von der Freiheit und dem Staat und dem
Überbau im Kapitalismus ist, war vor 150 Jahren genauso relevant wie heute.
Die Auffassung, daß die Errichtung der Demokratie, wie ich sie interpretiert habe, in einigen Gesellschaften noch
heute eine Grundlage für die Ausweitung der Freiheiten schaffen könnte, ist meines Erachtens eine naive und
unkritische Auffassung, und zwar aus dem Grund, wei) die Kräfte, die für die Freiheit kämpfen, falsche
Versprechungen machen. Die Demokratie heute ist keine Liste von Grundsätzen über die Presse- und
Gewissensfreiheit, den netten Umgang mit Minderheiten (sollte dies überhaupt jemals der Fall gewesen sein), sie ist
kein Modell, das man beliebig überall realisieren könnte, sondern sie ist ein Titel für das politische Regime der
Bourgeoisie in unserer Zeit. Es geht nicht, die Demokratie als eine Institution und einen politischen Überbau
einführen und gleichzeitig die Herrschaft der Bourgeoisie ablehnen zu wollen. Deshalb sind es die Bourgeoisie und
ihre Interessen, die die praktische Bedeutung der Demokratie und den Anteil, den der Bürger an der Freiheit hat, von
Fall und in jeder Periode neu bestimmen. Sollte irgendwo die Bourgeoisie despotisch sein und keinen Wert auf
individuelle und bürgerliche Rechte legen wollen, und am Ende des 20. Jahrhunderts langsam überall in der Welt
eine Ausweitung der Freiheiten von der Bourgeoisie erwarten, bedeutet dies, sich selbst und die Leute zu betrügen.
Die Demokratie heute versteht sich nicht mehr als eine Antithesis des Feudalismus, der absolutistischen Monarchie
und der religiösen Herrschaft, sondern ist klipp und klar der Schützengraben der Bourgeoisie gegenüber den
Kämpfen der Arbeiter für die Freiheit und den freiheitlichen Vorstellungen, die vom Sozialismus inspiriert worden
sind.
Frage: Wollen Sie damit etwa sagen, daß die Demokratie a/s ein Begriff und eine Kategorie für die
Arbeiterklasse und die kommunistische Bewegung der Arbeiter unbrauchbar ist? Oder /assen Sie mich die
Frage anders formulieren: warum kann man nicht als Gegensatz zur bürgerlichen Interpretation der
Demokratie, eine proletarische und sozialistische Interpretation der Demokratie haben, genauso wie sie in der
kommunistischen Literatur und auch bei Lenin vorhanden und eine alte und allgemein akzeptierte
Formulierung unter den Kommunisten gewesen ist?
Mansour Hekmat: Ich bin kein fanatischer Gegner der Anwendung des Begriffes Demokratie. Oft wird dieser
Begriff als Ersatz für die Freiheit, die Errichtung der üblichen bürgerlichen Rechte oder sogar das Vorhandensein
politischer und sozialer Toleranz gegenüber anderen Ansichten, Traditionen, Sitten usw. benutzt. Was ich sage ist,
daß gerade da, wo dieser Begriff als ein politisches Ideal benutzt wird, und daß gerade dann, wenn die Linken ihn
loben und würdigen, dieser Begriff irreführende Gedanken liefert, und für den Kampf für die wirkliche Freiheit
schädlich ist. Was ich sagen will ist, daß die Demokratie kein Synonym für die Freiheit ist. Demokratie ist eine
Staatsform und eine Reihe von politischen Ideen und Maßnahmen, die mit dem sozialen Dasein des Kapitals und der
daraus resultierenden politischen Rechtlosigkeit übereinstimmt, die besonders in unserer Zeit jede Beziehung zu der
Ausweitung der Rechte der Bevölkerung verloren hat. Demokratie ist eine politische Losung und ein Symbol für
einen reaktionären, politischen und wirtschaftlichen Zustand, dessen Kern die Heiligkeit des Marktes ist.
Es ist richtig, daß der Demokratiebegriff in der kommunistischen Literatur generell in einem positiven Sinn benutzt
worden, und ein Schlüsselwort im politischen Kampf und der Taktik gewesen ist. Aber dies muß sich meines
Erachtens ändern, weil sowohl der objektive Zustand und die praktische Bedeutung der Demokratie als auch in Art
und Weise, wie die heutige Gesellschaft die Demokratie subjektiv wahrnimmt, sich geändert haben.
Ich muß noch hinzufügen, daß der Umgang der kommunistischen Denker mit der Kategorie Demokratie, von der
Frühschriften Marx und Engels (1843-47), die sich mit den ideologischen Strömungen und den politischen
Entwicklungen in Europa befaßt haben, bis hin zu Lenins Methodologie während der russischen Revolution und im
Zusammenhang mit den Massenbewegungen in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts, sich geändert hat, und dieses
allein ein Ausdruck einer gewissen theoretischen Präzision einerseits, und noch wichtiger der konkreten Entfaltung
der Demokratie und des Demokratismus in der objektiven Welt andererseits ist. In den früheren marxistischen
Schriften gibt es eine schärfere Unterscheidung im Vergleich zum Grad meiner Unterscheidung zwischen
Demokratie als der Herrschaft des Volkes oder Volksherrschaft mit Liberalismus und Parlamentarismus als den
praktischen Inhalten des Bourgeois-Demokratismus. Während Liberalismus und Bourgeois-Demokratie ganz
eindeutig mit Privateigentum, Markt und Kapital in Verbindung gebracht werden, wird Demokratie allgemein als
Republikanismus und das Ende der absolutistischen Monarchien, und als eine Forderung, das Volk zur Quelle der
Macht und der Errichtung der Zivilgesellschaft, gestützt auf das Gesetz und nach dem Wohlbefinden der Bürger
bestrebt usw., zu machen, verstanden. In dieser Etappe war der Demokratiebegriff zeitgemäß. In der Öffentlichkeit
wird dieser Begriff mit dem steigenden Bewußtsein der Leute von ihren Rechten, und dem Willen, ihre
Angelegenheiten selbst in der Hand zu nehmen, gleichgesetzt. In diesem Zusammenhang sprechen Marx und Engels
oft von der “kommunistischen Demokratie", von "wir Demokraten” von der "wahren Demokratie” von den
Unterschieden der Demokratie der Arbeiter zur Demokratie der Bourgeoisie und des Adels, von dem menschlichen
Wohlbefinden und der Wohlfahrt als dem Ziel der Demokratie usw. Meines Erachtens ist das auch
selbstverständlich, weil der soziale Kampf entbrannt ist, um den Inhalt des Begriffes Demokratie festzulegen, und
solche Formulierungen selbst ein Teil der Bemühungen der Kommunisten und der sozialistischen Arbeiter gewesen
sind, den Sozialismus auf die Tagesordnung einer Gesellschaft zu stellen, die im Kampf gegen den Absolutismus
den sozialen Fortschritt als "Demokratie" bezeichnet. Natürlich wird später in den Schriften von Marx und Engels
deutlicher zwischen den Kommunisten und Sozialisten und den Demokraten und der Demokratie unterschieden, und
die Demokratie wird ein Begriff, der öfter im Zusammenhang mit dem Bourgeoisradikalismus und den
kleinbürgerlichen Aktivitäten verwendet wird.
Wie dem auch sei; am Anfang behandelten Marx und Engels sogar den Sozialismus als das Ziel und den praktischen
Inhalt des Sieges der Demokratie, und die Realisierung der wahren Demokratie.
Die Zeit Lenins ist eine andere Zeit. Die Demokratie mit ihrer bourgeoisliberalistischen Auslegung hatte sich bereits
durchgesetzt, und sie hat weniger von der früheren allgemeinen und formlosen Bedeutung von "Republikanismus".
Lenin hat sogar versucht, die Gründe des Andauerns eines gewissen Grades von politischer Toleranz und
bürgerlichen Freiheiten in den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern durch die Existenz einer imperialistischen
Weltordnung und der internationalen Verteilung der Freiheit und Unterdrückung zu erklären. Lenin sieht sich im
Vergleich zu früheren kommunistischen Führern mehr gezwungen, sich mit der real existierenden Demokratie und
dem Liberalismus und seinem parlamentarischen System und Wahlsystem auseinandersetzen zu müssen, und ein
konkreteres Bild von der proletarischen Demokratie, gestützt auf die Diktatur des Proletariats und der Räte, anbieten
zu müssen. Aber die Darstellung des Arbeiterstaates als eine "Arbeiterdemokratie" hat für Lenin eher eine defensive
Funktion, und wird hauptsächlich in Polemiken mit denjenigen gemacht, die die politische Freiheit in einem
Arbeiterstaat aus liberaler und parlamentarischer Sicht in Frage stellen. Für Lenin ist die Bedeutung der Demokratie
stärker denn je in der politischen Praxis der Bourgeoisie zu finden. “Die revolutionäre Demokratie", eine
Bezeichnung, die Lenin gerne in Bezug auf den Radikalismus der nichtproletarischen Habenichtse benutzt, wird
nunmehr in seinen Werken am Vorabend der Oktoberrevolution und besonders danach eindeutig als eine
nichtproletarische Tendenz und Bewegung, die sich vom Arbeitersozialismus unterscheidet, verwendet. Der
Arbeiterradikalismus und das Streben der Arbeiter nach Freiheit werden mit Sozialismus, und der
Nichtarbeiterradikalismus mit "revolutionärer Demokratie" beschrieben.
Noch zwei Punkte bezüglich Lenins Auffassung von der Demokratie sind von Bedeutung. Erstens: die Demokratie
wird von einem allgemeinen Ideal, von einem politischen Synonym für Freiheit, zu einem bestimmten politischen
Zustand und sogar einem vorübergehenden Zustand, der eine Zwischenstation und ein Sprungbrett für die
sozialistische Revolution darstellt. Es wird betont, daß Sozialismus heißt, die Demokratie zu überwinden und die
wirkliche Freiheit zu erreichen. Zweitens: der gemeinte demokratische Zustand, wie die Arbeiter ihn beabsichtigten,
wird zunehmend als nichtliberalistisch und räteorientiert beschrieben. Sowohl die direkte Aktion und die Aktion der
Unterschichten von unten, als auch die Massenorganisationen dieser direkten Aktion werden zunehmend in den
Vordergrund gestellt. Anders formuliert: in der Methodologie Lenins bekommt die Demokratie ihre Legitimität von
denjenigen Schichten, die ihre Basis in einer jeden Periode bilden, und der Zustand wird demokratisch genannt, in
dem die Hindernisse auf dem Weg der Unterschichten, ihren Willen durchzusetzen, beseitigt worden sind. Für Lenin
ist die Existenz und die Erhaltung der politischen und bürgerlichen Freiheiten, die aus seiner Sicht für das
Vorankommen der Arbeiterklasse lebenswichtig sind, selbst von der Willensausübung derjenigen Klassen abhängig,
die im Gegensatz zur Bourgeoisie ein Interesse an diesen Rechten haben.
In erster Linie ist nicht die Gleichsetzung der Demokratie mit einem festgesetzten Paket von bürgerlichen Rechten,
Freiheiten und wählbaren legislativen Organen wie dem Parlament begreiflich, sondern mit der direkten und
Willensausübung der Massen von unten und den direkten Institutionen dieser Bewegung vorort, und das auch noch
unter der Berücksichtigung der damaligen Verhältnisse. Einerseits ist die parlamentarische Demokratie in Europa
zur üblichen Norm geworden, und die Verbindung des Liberalismus und des Bourgeoisparlamentarismus mit der
kapitalistischen und imperialistischen Reaktion ist klarer zu erkennen. Andererseits werden sozialistische Aufstände
zur Übernahme der Macht praktisch auf die Tagesordnung der Arbeiterbewegung gesetzt. In so einer Situation sind
die Möglichkeiten der Bewegung viel weiter fortgeschritten als parlamentarische Reformen.
Im Laufe der Verfälschung des Marxismus in der Sowjetunion während der Stalinzeit, und später in China durch
den Aufstieg des Maoismus, wurde die Verbindung der Kategorie von Demokratie mit bürgerlichen Rechten und
Freiheiten einerseits und mit der Willensausübung der Unterschichten von unter andererseits völlig
auseinandergerissen. Einerseits wurde Demokratie zu einem Losunoswort für bestimmte soziale Schichten, die
unabhängig von ihrer Politik und ihren sozialen und politischen Zielsetzungen, aufgrund ihrer wirtschaftlichen
Position als "Demokrat" bezeichnet wurden, und andererseits wurden diese Schichten selbst, sei es bei der
politischen Interpretation oder in der wirklichen Welt, durch die politischen Kräfte und Staaten, die als ihr
“Klassenvertreter" bezeichnet werden, ersetzt. Ein demokratischer Zustand. der in diesen Schulen als
Volksdemokratie oder Massendemokratie
bezeichnet wird, ist ein Zustand, in dem die "Volks parteien an der Macht sind. In solchen Demokratien, die die
Hauptstaatsform der verschiedenen Länder im sowjetischen und chinesischen Block und in ihren politischen
Satelliten darstellte, wurde die Annahme, daß der Staat ein Volksstaat ist, als Begründung dafür benutzt, diese
Staaten demokratisch zu nennen, und nicht das Vorhandensein von persönlichen, politischen und bürgerlichen
Rechten oder kommunalen Massenentscheidungsorganen usw. war dafür Voraussetzung.
Diese völkisch-staatliche Interpretation war der Kern des Verständnisses von der Demokratie der
antiimperialistischen Linken der dritten Welt. Vielleicht erinnern sie sich daran, daß, als wir zum Zeitpunkt der 79er
Revolution von den uneingeschränkten politischen Freiheiten wie der Presse- und Redefreiheit geredet haben, sogar
der radikalste Teil der Linken davon schockiert war. Wir wurden beschuldigt, uns für die "Misan" Zeitung einsetzen
zu wollen! Ihnen zufolge, oder auf jeden Fall gemäß den pseudosozialistischen Interpretationen, die sie gewollt oder
ungewollt von Stalin und Mao geerbt hatten, war die Volksdemokratie mit der Machtübernahme der Front der
Volksparteien gleichzusetzen. Wie die individuellen Rechte in diesem System aussehen würden, und was mit der
Rede- und Streikfreiheit passieren sollte, das waren alles komplett liberale Kategorien.
Diese Betrachtungsweise der Demokratie hatte auch ihre sozialen Hintergründe. Dies war nichts anderes als ein
kleinbürgerlicher und antiimperialistischer Nationalreformismus der Intellektuellen, die ihre Unzufriedenheit mit
der wirtschaftlichen Rückständigkeit in diesen Ländern zum Ausdruck bringen wollten. Die Volksdemokratie sollte
ein politisches Regime für wirtschaftliches Wachstum, die Beendigung der Abhängigkeit vom Westen, die
Erreichung der wirtschaftlichen "Unabhängigkeit" und Steigerung der politischen Dignität des Landes sein, weil
angeblich die wirtschaftliche Entwicklung und politische Unabhängigkeit charakteristische Tendenzen des Volkes
und der Volksschichten waren. Auf der anderen Seite waren individuelle Freiheit, kulturelle Entfaltung, Steigerung
des Konsumniveaus und die Vielfalt der konsumierten Waren Bourgeoistendenzen und unvereinbar mit den
Interessen des Volkes.
Hinter all diesen Dingen konnte man den Versuch eines Teils der Bourgeoisie der dritten Welt und der
unterentwickelten Länder sehen, der versucht hat, mit Hilfe der ideologischen Mobilisierung der arbeitenden
Massen der Gesellschaft, deren Bereitschaft für die Akzeptanz wirtschaftlichen Bedürftigkeit und politischer
Einschränkung zu steigern, eine Entwicklung und Industrialisierung der eigenen Volkswirtschaft zu realisieren, und
so einen starken und nationalen Staat zu organisieren. Die Demokratie und die Volksdemokratie waren die
politischen und ideologischen Instrumente für solch einen Bourgeoisstaat. Meines Erachtens gehen mit der
Entstehung und später mit dem Bankrott der Kategorie der Volksdemokratie schon die Zeiten des Herumtreibens der
Arbeiter und des Sozialismus mit der Kategorie der Demokratie offiziell zu Ende, weil in der Volksdemokratie -genauso
wie in einer liberalen Demokratie - die Kategorie der Demokratie nochmals offiziell als das Instrument für
die Legitimierung des Klassenstaates der herrschenden Bourgeoisie benutzt wird.
Die Tatsache, daß die neue Runde der Popularität der Demokratie, die wir in den letzten Jahren beobachtet haben,
offiziell vor dem Hintergrund der Glorifizierung des Marktes und des Bejubelns des Kapitalismus stattfindet, zeugt
selbst davon, daß für die Sozialisten die Aera des Versuchs, die Kategorie der Demokratie zu radikalisieren, zu
reinigen und arbeiterorientiert zu machen, zu Ende gegangen ist. In jeder Epoche ist die Demokratie ein konkretes
historisches Produkt, und ist nicht beliebig uminterpretierbar. Wir leben weder in der Zeit von Marx, in der der
Arbeiter anfängt seine politischen und bürgerlichen Rechte zu kennen, noch leben wir in der Zeit von Lenin, in der
die ersten Arbeiterrevolutionen zur Übernahme der Macht stattfanden. Wir leben in einer völlig anderen Zeit. Das
Versagen des Kapitalismus, seiner Politik und seiner Wirtschaft schreit überall gen Himmel. Jeder soll das Wort
benutzen, das am Besten seinen Gedanken ausdrückt. Aber ich bin der Meinung, daß diese Kategorie von
Demokratie den Arbeiterkommunismus nicht weiterbringen würde. Diese Kategorie schafft eher Illusionen als
Bewußtsein, und führt eher zu einer Verwechslung der freiheitlichen Bewegung mit den schlimmsten Gegnern der
Freiheit der Menschen, als die freiheitlichen Bewegungen besser definieren zu können, und unterschreibt eher die
vorhandenen korrupten und unterdrückerischen Systeme, als für die Menschen würdevolle soziale System
beschreiben zu können.
Ich bin der Meinung, daß wir diesen Begriff zur Seite legen und uns nicht an diesem Puppenspiel am Ende des 20.
Jahrhunderts beteiligen sollten. Wir sind keine Demokraten; wir sind für die Freiheit, wir sind Sozialisten, wir
setzen uns für den Menschen, seine Würde und seine individuellen und kollektiven Rechte gegenüber dem
herrschenden Klassensystem ein. Unser historisches Ziel ist nicht. die Demokratisierung des Staates, sondern die
Abschaffung seiner Daseinsberechtigung. Wir wehren uns entschieden gegen die Angriffe der Staaten und Parteien
auf die individuellen und bürgerlichen Freiheiten der Menschen, seien sie demokratischer oder undemokratischer,
parlamentarischer oder außerparlamentarischer Art, und wir sind der Meinung, daß nur die sozialistische Revolution
der Arbeiter und aller Menschen, die sich für dieses Ziel einsetzen, eine freie Gesellschaft im wahrsten Sinne des
Wortes errichten kann.
Frage: Mit dem Zusammenbruch des Ostblocks versucht eine revisionistische Tendenz innerhalb der Sozialisten
das, was ihrer Meinung nach das Untergeordnetsein der Demokratie als Ideal im bisherigen Kommunismus und
Sozialismus bedeutet, zu kritisieren, und durch die Betonung der Kategorie Demokratie diesen sogenannten
Fehler zu beseitigen. Es gibt andere Strömungen, die argumentieren, dal3 die fehlende Demokratie in der
Sowjetunion und den Ländern des Ostblocks eine der Hauptgründe für das Scheitern dieser Systeme gewesen ist.
Was sagen Sie zu solchen demokratischen Kritiken am Marxismus und zu der Entwicklung und dem
Zusammenbruch der Sowjetunion a/s ein Block, der sich als sozialistisch bezeichnet hat?
Mansour Hekmat: Es gibt zwei Gruppen von solchen Kritikern: eine Gruppe geht von der bourgeois-liberalen
Interpretation der Demokratie aus und meint, daß nicht nur die politische Theorie des Marxismus, sondern auch
seine ökonomi
schen Grundsätze revidiert werden müssen, und sowohl der Markt als auch die Demokratie im Sinne deren
parlamentarischer und westlicher Praxis zu dieser Weltanschauung hinzugefügt werden müssen. Die
Wertlosigkeit und der Bourgeois-Charakter eines solchen Versuches aus der Sicht eines Kommunisten, der
grundsätzlich die Bourgeoiswirtschaft und den politischen Überbau der Bourgeoisgesellschaft kritisiert, und
immer den Marxismus so verstanden und akzeptiert hat, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Man kann
niemanden, der den Marxismus mit dem Markt und dem Liberalismus vermischen und daraus eine dritte
Strömung fabrizieren will, daran hindern. Aber solch eine allgemeine Strömung hat weder mit der Emanzipation
vom Kapitalismus, noch mit der Freiheit des Menschen zu tun, und wird deshalb durch die sozialistische
Bewegung der Arbeiter nicht angenommen.
Aber solche Argumente, die meinen, daß die Kategorie des Individuums und der individuellen Freiheit in einem
allgemeineren Sinne im Kommunismus und Marxismus eine untergeordnete Rolle gespielt haben, müssen eine
konkretere Antwort bekommen. Natürlich kann ich an dieser Stelle nicht so ausführlich darauf eingehen. Ich
beschränke mich, nur darauf hinzuweisen, daß solche Kritiken zwangsläufig durch den Eindruck der Praxis der
offiziellen Strömung des Kommunismus in der Sowjetunion, in China und in deren Satelliten hervorgerufen
werden, und solche Praktiken dann zwangsläufig insgesamt oder zum Teil dem Konto des Marxismus
zugeschrieben werden. Ansonsten ist es sehr einfach, sich an die marxistischen Ideale und Analysen, an die
Geschichte des Kommunismus vor der sowjetischen Entgleisung zu wenden und zu zeigen, warum der
Marxismus freiheitliche Reformen nicht nur nicht braucht, sondern sowohl analytisch als auch in der lebenden
Geschichte, der Marxismus wegen seiner extremen und kompromißlosen freiheitlichen Gedanken immer unter
dem Beschuß der Bourgeoistheoretiker und -politiker gestanden hat. Sollte die Auffassung der Gesellschaft von
Kategorien wie Freiheit, Wert und Würde des Menschen während der letzten zwei Jahrhunderte vertieft worden
sein, so ist dies hauptsächlich dem Marxismus und Kommunismus zu verdanken. Der Marxismus hat solch eine
maximalistische Auffassung von der Freiheit des Menschen. und deckt in einer so eindrucksvollen Weise die
Manifestationen der Knechtschaft der Menschen an den winzigsten Beispielen auf, daß es sehr lächerlich wäre,
wenn jemand versuchen wollte, ihn mit Hilfe der westlichen Demokratie freiheitlicher zu machen. Jemand, der
die Menschen alleine deshalb, weil sie nicht vom Boden abhängig sind und das Recht haben, ihr Eigentum und
ihre Arbeitskraft auf dem Markt zu verkaufen, und sich an Parlamentswahlen beteiligen können, als frei
bezeichnet, ist kaum in der Lage, irgendetwas Sinnvolles der Anschauung, die sogar in den freiesten Demokratien
die Ohnmacht der Menschen gegenüber der Macht des Kapitals aufdeckt, hinzufügen. Auf jeden Fall besteht kein
Zweifel daran, daß die marxistische Interpretation der Freiheit ein Gebiet ist, mit dem wir uns ernsthaft
beschäftigen müssen, wenn wir den anitsozialistischen, demagogischen Kampagnen etwas entgegensetzen
wollen.
Das gilt aber nicht für das Thema Sowjetunion. Es ist klar, daß wir es in der Sowjetunion mit keiner liberalen
Demokratie zu tun hatten. Das bedeutet aber auf keinen Fall, daß ein Bürger der Sowjetunion im politischen
Bereich unbedingt weniger Rechte als ein Bürger in westlichen Ländern hatte. In vielen Bereichen wie zum
Beispiel Gleichberechtigung der Männer und Frauen, das Recht auf Bildung und Gesundheit,
Mitbestimmungsrecht im Betrieb und im Privatleben, hatten die Bürger des Ostblocks im Vergleich mehr Rechte.
Was unterschiedlich war, waren die eingesetzten Mechanismen in den beiden Blöcken, um die Bürger ihrer
Rechte zu berauben. Dieses geschieht in einem parlamentarischen System in einer viel feineren und indirekteren
Art und Weise. Auf jeden Fall hat der Zusammenbruch des Ostblocks nichts mit der fehlenden liberalen
Demokratie zu tun gehabt. Der Kern des Problems lag, wie wir schon früher diskutiert haben, in der
wirtschaftlichen Sackgasse des sowjetischen Modells, und in seiner Unfähigkeit, an den technologischen
Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte teilzunehmen und die Bedürfnisse einer fortgeschrittenen
industriellen Gesellschaft zu erfüllen. Die Sowjetunion war am Ende der 50er Jahre genau so wenig liberal und
konnte gleichzeitig hohe Wachstumsraten nachweisen, und es gab kein Anzeichen für ihren Zusammenbruch. Im
heutigen China herrscht eine Diktatur und gleichzeitig wird dieses Land wegen seiner hohen Wachstumsraten
vom Westen beneidet. Was über den Zusammenhang der Demokratie mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
gesagt werden könnte, ist, daß wenn vielleicht - wie die Altgardisten der ehemaligen sowjetischen KP behaupten
- die Kapitulation gegenüber dem Markt ohne das grüne Licht für die liberalen Rechte stattgefunden hätte (was
China praktiziert), nämlich "Perestroika ohne Glasnost", wäre der Zusammenbruch der Sowjetunion nicht so
vollständig und dramatisch ausgefallen.
Und schließlich hat eine Kritik an der fehlenden sozialistischen Freiheit in der ehemaligen Sowjetunion die
schwache Stelle, daß explizit oder implizit eine sozialistische Wirtschaft in der Sowjetunion und im Ostblock
suggeriert wurde. Die sozialistische Freiheit kann sich nur von dem Hintergrund einer Änderung der
wirtschaftlichen Fundamente und der Produktionsverhältnisse der Gesellschaft herausbilden. Diese Freiheit war
in der Sowjetunion nicht vorhanden, weil solche Änderungen an den wirtschaftlichen Fundamenten der
Gesellschaft nie stattgefunden haben. Solche Freiheiten im Ostblock erwartet zu haben, zeigt, daß sich die
Vorstellüng des Kritikers von einer sozialistischen Produktionsweise nicht viel von dem, was im Ostblock
geherrscht hat, unterscheidet. Dies ist die Position der Hauptströmungen des Trotzkismus und der meisten der
neuen Linken gewesen, und ist meines Erachtens völlig illusionär und illusionsstiftend. Das Fehlen der Freiheit,
wie die Marxisten und Arbeiter sie verstehen, war auch nicht der Grund für den Zusammenbruch des Ostblocks.
Ich denke, man soll versuchen, die soziale und historische Bedeutung solcher Positionen, die heute dazu neigen,
den Sozialismus zu demokratisieren, zu verstehen. Die Haltung des Marxismus zur Freiheit und zum Stellenwert
der Kategorie Freiheit ist in der kommunistischen Bewegung während der letzten 150 Jahre allgemein bekannt
gewesen, so daß man kaum annehmen kann, daß heute plötzlich welche auf die Idee gekommen sind. sie zu
untersuchen und zu berichtigen. Das, was solche Versuche heute auf die Tagesordnung setzt, ist die ideologische
Hegemonie und das propagandistische Geschrei der Rechten über die Demokratie. Ein Teil der Linken ist dabei,
bei ihrem Rückzug das Dekret der Sieger in die Tat umzusetzen. Sie sind dabei, die bisherige Geschichte des
Sozialismus und die Grundsätze des sozialistischen Gedankens aus der Sicht der Sieger neu zu schreiben und zu
revidieren. Dies ist eine politische Unterwerfung und keine Erlangung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse.
Deshalb ist die gesamte Problematik für mich wertlos. Sie ist wertlos, aber sie ist nicht unwichtig, weil sie die
sozialistische Bewegung der Arbeiterklasse unter Druck setzt und an den Rand drängt. Man soll sie bekämpfen,
aber nicht dadurch, daß man sie wissenschaftlich ernst nimmt, sondern daß man ihre politische Wahrheit entlarvt.
Frage: Wie, ob und welches die Voraussetzungen zur Errichtung der Demokratie im Iran sind, war eine der
wichtigen Debatten, die zum Zeitpunkt der Revolution im Jahr 1979 innerhalb der Linken stattgefunden hat.
Damals haben Sie und das "Bündnis der militanten Kommunisten" in Schriften wie "Der Mythos der
nationalen und fortschrittlichen Bourgeoisie" und anderen Schriften, die später die programmatische
Grundlage der KP-Iran gebildet haben, das Vorhandensein einer objektiven Voraussetzung für die Errichtung
einer liberalen Demokratie im Iran, mit dem Hinweis auf die Merkmals der politischen Ökonomie in einem
so/chen Land, grundsätzlich in Frage gestellt. Was sagen Sie heufe vor dem Hintergrund der wichtigen
internationalen Entwicklungen der letzten Jahre und auch unserer Diskussion bis jetzt zu dieser
Problematik?
Mansour Hekmat: Unsere Diskussion während der 79er Revolution und u.a. in den Schriften die Sie erwähnt
haben, hatte einen klaren und verständlichen Rahmen. Die Leute waren dabei, gegen ein despotisches,
monarchistisches Regime zu revoltieren und Freiheit zu fordern, und der größte Teil der Linken war dabei, Seite
an Seite mit den großen bürgerlichen und kleinbürgerlichen Parteien, Illusionen solcher Art zu verbreiten, als ob
die Errichtung eines nichtdespotischen und umgangssprachlich demokratischen Regimes ohne die Entmachtung
der Bourgeoisie insgesamt und ohne Entwurzelung des Kapitalismus im Iran möglich wäre. Die eine wollte den
demokratischen Staat als einen Staat solcher mythischen Kreaturen wie der nationalen Bourgeoisie oder
antiimperialistischen Kleinbourgeoisie sehen, und die andere sah sich selbst oder die Arbeiterklasse als den
Vollstrecker dieser demokratischen Entwicklung. Die eine hatte vielleicht Europa und den Westen als Modell vor
Augen und die andere staats- und volksorientiert. Einige dieser Strömungen haben ganz und gar die Herrschaft
des Kapitalismus im Iran bestritten, und waren der Meinung, daß die Revolution die Aufgabe hat, erst die
Herrschaft des Kapitalismus - natürlich eine "einheimische gute und unabhängige Art" - gegenüber dem
kolonialistischen Feudalismus, der ihrer Meinung nach im Land herrschte und die Basis für den politischen
Despotismus war, zu verwirklichen.Sie waren alle darin einig, daß ein nichtdespotischer Kapitalismus im Iran
nicht nur eine reale Möglichkeit sei, sondern das Ziel des laufenden revolutionären Kampfes bilden müßte. Sie
hatten alle in irgendeiner Art und Weise die Herrschaft der Diktatur im Iran von der Herrschaft des Kapitals
getrennt und meinten, daß sie von außen gestützt wird. Für die einen war die Quelle der Diktatur der Feudalismus
und der Kolonialismus, für die anderen Imperialismus und Abhängigkeit und für eine weitere Gruppe die
unterentwickelten kapitalistischen Verhältnisse und der nichtausreichende Industrialisierungsgrad, oder die
unterentwickelte moderne bürgerliche Kultur im Iran. Dagegen haben wir argumentiert, daß die Rechtlosigkeit
und die staatliche Brutalität und Unterdrückung im heutigen Iran weder zufällig, noch das Ergebnis einer
ausländischen Verschwörung, noch das Resultat der zurückgebliebenen Kultur der Bevölkerung oder der
fehlenden einheimischen Fabriken und Kapitalisten ist, sondern diese Diktatur wird grundsätzlich durch die
Bedürfnisse des kapitalistischen Regimes im Iran verursacht. Wir haben argumentiert, daß die Achtung der
bürgerlichen Rechte, die mit der Demokratie assoziiert werden, wie z.B. die Rede-, Koalitions- und Streikfreiheit,
wie sie im Westen herrschen, mit den lebenswichtigen Bedürfnissen des Kapitals im Iran (wie in vielen anderen
Ländern) nach "billigen Arbeitskräften und stillen Arbeitern" im Widerspruch steht. Die Diktatur im lran ist
weder ein Instrument zur Unterdrückung der Bourgeoisie durch die Feudalen, noch ein Instrument zur
Unterdrückung der "einheimischen" durch die "abhängige" Bourgeoisie. Es ist ein Regime, das die gesamte
Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse aufgebaut hat, und mit dessen Hilfe dabei ist, Kapital anzuhäufen.
Jeder - egal mit welcher Intention, mit welcher Farbe seiner Fahne und mit welchem wirtschaftlichen Modell -der
beabsichtigt, in der heutigen Welt den Kapitalismus im Iran in Betrieb zu halten, muß notwendigerweise das
Fundament dieser Diktatur festigen.
Wir haben derartige Dinge zu einer Zeit gesagt, als die Moslems noch nicht mal an der Macht waren, geschweige
denn ihren 20. Juni durchgeführt hatten (am 20. Juni 1982 hatte das Regime die Demonstration der Opposition
blutig niedergeschlagen, und hatte damit endgültig seine Machtposition gefestigt und eine Aera der offenen und
brutalen Unterdrückung angefangen.-Anm. d. Übers.-), also zu einer Zeit, in der Freiheit und Demokratie das
mindeste war, was die traditionelle radikale Linke von ihrer "fortschrittlichen und antiimperialistischen"
Bourgeoisie und Kleinbourgeoisie, die die Macht übernhemen wollte, erwartet hat. 15 Jahre sind vorbei, und
seitdem haben wir Zehntausende von Opfern zu beklagen. Ich denke die Richtigkeit dieser Diskussionen und
Warnungen muß jedem, dessen Hauptanliegen politische Freiheit - auch mit einer liberalen und demokratischen
Interpretation - ist, klar sein. Wenn wir heute beobachten, das die Überreste der Linken wieder, und diesmal in
einer noch naiveren Art und Weise, den Leuten einen Iran versprechen, der bourgeois und demokratisch sein soll,
zeigt das, daß die Demokratie nicht einmal ihr wirkliches Anliegen ist. Nationalismus und der Wunsch nach einer
industriellen Entwicklung sind die Hauptmerkmale, die ihre politische Identität definieren. Für sie ist die
Demokratie mit einem "erträglichen” Staat gleichzusetzen, und viele von ihnen meinen, daß die Errichtung eines
solchen Staates von bestimmten Faktoren des vorhandenen Regimes oder von manchen der Gruppierungen der
Bourgeoisopposition erwartet werden kann.
Ich denke, daß viele der weltweiten politischen Entwicklungen, sei es während der Zeit des Aufstiegs des
Thatcherismus in den 80er Jahren. oder seien es die noch wichtigeren historischen Entwicklungen der letzten
Jahre, nämlich der Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende des Kalten Krieges und deren weitreichende
Konsequenzen, die Richtigkeit unserer Anschauung bezüglich des direkten Zusammenhanges der Demokratie mit
der wirtschaftlichen Position der Bourgeoisie gegenüber der Arbeiterklasse bestätigt haben. England ist die
Wiege des Liberalismus und der Demokratie gewesen. aber wenn die Bourgeoisklasse sich wirtschaftlich unter
Druck sieht, entscheidet sie sich für den Thatcherismus als ihre offizielle Ideologie, und die fundamentalsten
gewerkschaftlichen Rechte der Arbeiter und die bürgerlichen Rechte der Bevölkerung werden außer Kraft
gesetzt. Während der Ereignisse im Ostblock wurde nicht nur klar, daß die Demokratie eine Losung für Markt,
Wettbewerb und Vielfältigkeit des Kapitals ist, sondern es wurde auch klar, daß die Verbreitung des privaten
Kapitalismus und die Kapitalakkumulation in den Ländern, die eine schwache technologische Basis haben, ohne
gewaltige Senkung des Lebensniveaus der Arbeiter und seinem Anteil am Sozialprodukt nicht möglich ist. Dies
führte dazu, daß sich sofort eine entsprechende Interpretation der Demokratie durchgesetzt hat, nämlich diejenige
Interpretation, mit der die Menschen jeden Tag durch die unverschämten Medien und den unverschämten
Journalismus der 90er Jahre vollgestopft werden. Hier bekommt nun die Demokratie sogar auf der formalen
Ebene eine umgekehrte Bedeutung. In diesem Fall sind "die Demokratie" die vertrauten Kräfte der westlichen
Regierungen, die bereit sind die Preise festzusetzen und das Lebensniveau der Bevölkerung sinken zu lassen, und
im Kampf gegen die allgemeine Unzufriedenheit den Ausnahmezustand auszurufen, die bürgerlichen Rechte zu
suspendieren, eine Diktatur zu errichten und Streik und Parteienbildung zu verbieten. Demokratie ist die Losung
für die rechtsgerichteten und diktatorischen Freunde der Weltbank in diesen Ländern. Zumindest wurde klar, daß
die vielgepriesene Demokratie der westlichen Bourgeoisie zur wirtschaftlichen Position der Bourgeoisie in den
östlichen Ländern und den Bedürfnissen dieser Klasse und zur brutalen Unterdrückung der ernsthaften
Machtproben der Arbeiter in diesen Ländern in keinem Verhältnis steht.
Frage: Dann sind Sie der Meinung, daß die Errichtung einer liberalen Demokratie und einer
parlamentarischen Republik mit ungefähr den gleichen individuellen und bürgerlichen Rechten wie in
Westeuropa grundsätzlich ausgeschlossen ist? Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, daß sich solch eine
Aussicht, wie sie die liberale Opposition und eine große Anzahl der linken Organisationen von damals
befürworten, realisieren ließe?
Mansour Hekmat: Es geht nicht darum, ob sich diese Aussicht realisieren kann oder nicht. Es geht vielmehr
darum, ob sich dieser Zustand als ein politischer Überbau in der Gesellschaft reproduzieren läßt. Die liberale
Demokratie ist nicht unvorstellbarer als ein Mullah-Staat im Iran. Bezüglich des islamischen Regimes lautet die
Frage übrigens genauso: inwiefern kann solch ein politisches Regime ein reproduzierbarer Überbau für die
Gesellschaft und eine stabile Struktur und Rahmenbedingung für die politischen Aktivitäten im Land sein? Das
islamische Regime ist nun einmal entsprechend der konkreten politischen Lage und als eine Antwort auf
bestimmte historische Notwendigkeiten zustande gekommen, aber sogar nach 15 Jahren wurde es niemals zu
einer Routine und einer akzeptierten politischen Struktur des Kapitalismus im Iran. Jeder Tag des Überlebens der
islamischen Republik .ist mit erneutem Blutvergießen, erneuter Unterdrückung und neuen Entwürfen für die
Machterhaltung verbunden. Vielleicht würde im Iran mal ein Parlament und eine liberale Verfassung zu einem
anderen historischen Zeitpunkt als ein politischer Zufall zustande kommen. Vielleicht wird es auch möglich sein,
daß dank der Kraft einer bestimmten Generation der Parlamentaristen, der Alternativlosigkeit der Opposition, der
militärischen Intervention der internationalen Verbündeten der Machthaber und dank vieler anderer
unvorhergesehener Faktoren, dieses Parlament und diese liberalen Gesetze einige Zeit überleben. Aber eine
Tatsache, die man nicht vergessen darf, ist, daß dieses parlamentarische System nicht in der politischen
Ökonomie der Gesellschaft, und speziell in der Art des politischen Auftretens der iranischen Bourgeoisie und in
der politischen Umgehensweise der herrschenden Klasse mit den Arbeitern verwurzelt ist, und sich auf dieser
Grundlage nicht immer wiederherstellen lassen wird. Dieses Parlament muß auch durch irgend jemanden mit
Gewalt und gegen den Willen des Hauptsektors der Bourgeoisie, der im Wirtschaftsbereich aktiv ist, gestützt
werden. Sonst würde die Gefahr bestehen, daß es von Links oder von Rechts ersetzt wird.
Aber das nächste Problem bleibt, daß sogar das Zustandekommen eines parlamentarischen und liberalen Systems
als solches - auch durch einen historischen Zufall - das Vorhandensein liberaler Parteien und eine liberale
Kampftradition voraussetzt, die aber in der iranischen Gesellschaft nicht existieren. Ein liberales System braucht
zumindest ein paar liberale Figuren! Diejenigen in der iranischen Opposition, die man heutzutage
fälschlicherweise liberal nennt sind in der Tat nationalistische und nicht mal seku,
läre Republikaner, die bis heute nicht mal ein wenig von ihrer Zuneigung gegenüber liberalen Vorschriften und
Grundsätzen, egal wie man diese bewerten will, gezeigt haben. Wenn sie vom Parlament und Pluralismus reden,
haben sie ein Modell im Kopf wie in der Türkei oder in Südkorea. Was ich zusammengefaßt als Antwort auf
diese Frage sagen will, ist, daß Demokratie und das liberale parlamentarische System weder mit den
wirtschaftlichen Bedürfnissen des iranischen Kapitals und der iranischen Bourgeoisie zusammengehen, noch daß
sie im wahrsten Sinne des Wortes von einem Teil dieser Klasse gefordert werden. Sowohl die
Wahrscheinlichkeit, daß es zustande kommt, noch daß es als eine dauerhafte und reproduzierbare Realität seinen
Platz im politischen Leben der Gesellschaft findet, ist gleich null.
Frage: ln dieser Diskussion haben Sie die Kategorie Demokratie einerseits im Zusammenhang mit der
sozialistischen Interpretation der Freiheit und andererseits im Zusammenhang mit der Realität der
demokratischen Regimes und der demokratischen Gesellschatten kritisiert und abgelehnt. Soweit es den Iran
angeht, haben Sie die Wahrscheinlichkeit der Errichtung eines demokratischen Regimes dort a/s gering
eingeschätzt. lst Ihrer Meinung nach für den Iran eine Zwischenstation zwischen einer unver hüllten
Bourgeoisdiktatur und einer sozialistischen Freiheit nicht vorstellbar? Wird etwa die Realisierung der
individuelle und bürgerlichen Rechte eine der Aufgaben der Arbeiterrevolution selbst sein? Ist nicht etwa die
Erzielung dieser Rechte selbst eine Voraussetzung für eine erfolgreiche Arbeiterrevolution?
Mansour Hekmat: Um den ersten Teil Ihrer Frage zu beantworten, muß ich sagen, daß nicht nur solche
Zwischenstationen vorstellbar sind, sondern man hat sie im Laufe der iranischen Geschichte auch öfter erlebt,
und wird sie auch in Zukunft noch erleben. Es geht nicht darum, ob eine Negation der unverhüllten
Bourgeoisdiktatur in einem Land wie dem Iran machbar ist oder nicht, sondern es geht darum, inwieweit so ein
Zustand eine organische und dauerhafte Form der Herrschaft des Kapitalismus und der Bourgeoisherrschaft im
Land sein könnte. Während der letzten 14-15 Jahre haben wir sehr viel über dieses Thema geschrieben. Es gibt
einen Unterschied zwischen einer impliziten und erzwungenen politischen Freiheit, die das Ergebnis eines
politischen Gleichgewichts und eines bestimmten historischen Knotenpunkts ist und vorübe˜gehend in einem
Land existiert, und einem bourgeoisdemokratischen politischen Überbau, der mit der gewöhnlichen Funktion des
Kapitalismus im Iran konform und kompatibel ist. Ersteres ist Real und unausweichlich, und das zweite eine
bewußte Illusion oder Irreführung. Dies ist keine akademische Fragestellung und hängt direkt mit dem Leben und
der Existenz von Millionen von Menschen zusammen. Die jetzige Generation der Arbeiterklasse im Iran wird
sogar solche "demokratischen" Augenblicke erleben. In solch einem Augenblick ist es wichtig für die
Arbeiterklasse die Realität dieses Augenblicks richtig zu erkennen. Eine Arbeiterklasse die die erzielten
Spielräume und Rechte als das Ergebnis der Auseinandersetzung und des Gleichgewichts der politischen Kräfte
der Gesellschaft versteht, und den Übergangscharakter dieses Zustands begreift, erkennt die Mechanismen der
Verteidigung und der Ausweitung dieser Errungenschaften, und die Dynamik einer revolutionären oder
reaktionären Negation dieses Zustands. Sie kennt die politische Manier der Bourgeoisie. und die Staatsstreiche,
die Konspirationen und die Bürgerkriege, die die Bourgeoisie für sie vorbereitet, und weiß, wie wertvoll jede
Minute des Fortdauerns des Zustands der relativen Freiheit ist, damit sie sich für die entscheidenden zukünftigen
politischen Kämpfe vorbereiten kann, und versucht auf der politischen Bühne präsent zu bleiben. Im Gegenteil,
diejenige Arbeiterklasse, die denken würde, daß sie nun eine Demokratie hat, und der Iran wie ein "zivilisiertes"
kapitalistisches Land eingestuft wird, muß sich eher zum Wohle der Demokratie für die ersten paar Jahre auf
Überstunden und Bedürftigkeit, und ab dem dritten Jahr auf viele Gefangene und Hingerichtete einstellen.
Und zum zweiten und dritten Teil ihrer Frage muß ich sagen, daß eine Realisierung der gesellschaftlichen und
individuellen Rechte der Menschen im wahrsten und tiefsten Sinne des Wortes, und deren Etablierung
ausschließlich und zweifellos die Aufgabe einer kommunistischen Revolution der Arbeiter sein kann. Der
Mensch des 20. Jahrhunderts hat schon den äußersten Grad der Freiheit unter dem kapitalistischen System erlebt.
Wir erleben, was da alles vorhanden ist. Es wird auch keine neuen Wunder geben. Was man heute gerade noch
sagen kann, ist, daß der Prozeß einer rückläufigen Entwicklung der allgemeinen Auffassung von der Freiheit und
den rechtlichen Grundlagen der Zivilgesellschaft schon seit einiger Zeit begonnen hat. Aber, wie ich schon gesagt
habe, ist die Negation des Bourgeoisdespotismus in der Praxis, die Lahmlegung der Unterdrückungskraft der
Bourgeoisstaaten und -parteien für eine bestimmte Zeit und das Erzwingen eines Situation, in der eine implizite
Beraubung der Freiheiten der Menschen durch die herrschende Klasse wirklich schwer gemacht worden ist, nicht
nur machbar, sondern ist einer unserer taktischen Versuche. Ein Umsturz der islamischen Republik, die
Bewaffnung der arbeitenden Massen und die Verteidigung der politischen und bürgerlichen Rechte der
Menschen ist nicht nur möglich, sondern lebenswichtig. Aber die Vorstellung, ein parlamentarisches System in
Teheran errichten zu können, in dem alle Bourgeoisleute nach dessen Spielregeln spielen, ihre Meinung sagen
und sich keine Gedanken darüber machen würden, wie sie die Macht mit Gewalt an sich reißen und
Arbeiterorganisationen und -institutionen verbieten und die erzielten Freiheiten außer Kraft setzen könnten, ist
eine Illusion. Der Umsturz der Diktatur und die Durchsetzung der bürgerlichen Freiheiten ist eine politische
Voraussetzung für die Mobilisierung von genug Kräften, die einen entscheidenden Schlag durch die
Arbeiterklasse gegen das kapitalistische System ermöglichen, aber was wir immer wieder während der letzten
Jahre versucht haben, klarzustellen, ist, daß diese Voraussetzung durch die Arbeiterklasse und durch ihre eigene
Kraft und im Kampf gegen eine Bourgeoisie, die ernsthaft Widerstand leistet, geschafft werden muß.
Heilßt das, daß die gesamte Kritik, die Sie am Parlament und am Parlamentarismus geübt haben, Sie
logischerweise in eine Position des Boykotts des Parlaments des parlamentarischen Kampfes versetzt? Sind Sie
der Meinung, daß die Arbeiterkommunistische Partei jede Beteiligung an einem Parlament und an den
parlamentarischen Wahlen im lran von vornherein vollkommen ausschließen muß? Ist überhaupt eine Situation
vorstellbar, in der die Partei sich an Wahlen oder sogar an einem parlamentarischen Staat beteiligt?Was ich
prinzipiell über die Position der Arbeiterpartei bezüglich des Parlaments und des parlamentarischen Systems
sagen will, ist, daß diese Institution und dieses politische Regime nicht die geeigneten Werkzeuge und Träger für
die Verantwortung des Sozialismus sein können. Der Sozialismus wird nicht durch das Parlament verwirklicht,
sondern er wird im Gegenteil das Parlament, egal wie demokratisch und unabhängig es ist, als eine Bastion des
Widerstands der Bourgeoisie erleben. Meine logische Schlußfolgerung ist nicht der Boykott des Parlaments,
sondern seine Zweitrangigkeit im Kampf der sozialistischen Arbeiterklasse zur Übernahme der Macht. Trotzdem
muß ich hinzufügen, daß meine Position gegenüber dem Parlament, sogar in Ländern wie England oder
Frankreich, im Vergleich zu den üblichen Positionen der revolutionären Linken oder den radikalen
Arbeiterparteien in diesen Ländern, viel stärker boykottierend ist. Ich bin der Meinung, daß das Parlament für die
Arbeiter ein Schauplatz der Auseinandersetzung und eine Kampffront, aber nicht das Tor zur Macht ist.
Aus praktischer Sicht ist die Teilnahme an Parlamentswahlen usw. vollkommen von der Zeit und dem Ort
abhängig. Persönlich bin ich der Meinung, daß in Europa der Kommunismus zu sehr zum Parlament und zu
parlamentarischen Kämpfen neigt. In Bezug auf die heutigen USA, bin ich der Meinung, daß der Boykott der
gesetzgeberischen Kammern und der Präsidentschaftswahlen als ein Grundsatz, von dem man in besonderen
Fällen eine Ausnahme machen kann, eine prinzipientreuere Taktik für den Arbeiterkommunismus sein kann. In
den meisten unterentwickelten Ländern, und besonders im Iran und anderen Nahost-Ländern, in denen das
Parlament entweder eine Dekoration ist oder offiziell und praktisch für die gewählten Vertreter des Volkes
versperrt ist, ist der Boykott das Gebot der Stunde.
Meiner Meinung nach muß die Arbeiterkommunistische Partei ständig das Parlament und den Parlamentarismus
entsprechend den bisherigen Ansatzpunkten in dieser Diskussion entlarven. Aber aus taktischer Sicht sind eine
Wahlkampagne und parlamentarische Aktivitäten der Partei überhaupt nicht auszuschließen. Aber es ist meiner
Meinung nach die Aufgabe der Partei, immer wieder auf der Basis der Analyse der politischen Situation und der
Interessen der sozialistischen Bewegung der Arbeiterklasse, die Notwendigkeit der Teilnahme im Parlament
aufzuzeigen. Natürlich kann man von vornherein eine Reihe von Grundsätzen und Grundlagen als
Voraussetzungen, auf deren Basis eine Teilnahme der Partei an einem parlamentarischen Prozeß erlaubt wäre,
nennen. Aber letztendlich muß eine konkrete Analyse der konkreten historischen Situation seitens der Partei in
jeder Periode die Antwort auf diese Frage liefern.
Heute, nach dem Wegfall der bipolaren Welt, und besonders nach dem amerikanischen Krieg am Golf und der
interventionistischen und propagandistischen Rolle der USA und der westlichen Länder, ist eine häufig gestellte
Frage, ob die Errichtung eines sozialisfischen Regimes in einem Land wie dem Iran mit einer sofortigen
Entsendung der Armee der kapitalistischen Mächte beantwortet werden würde? Hat denn überhaupt eine
Arbeiterrevolution in solch einem Land eine Chance? Und machen diese Faktoren, und die sich daraus
ergebenden Vorsichtsüberlegungen, vielleicht die Propaganda der Verfechter des parlamentarischen Systems
effektiver, unabhängig wie leer deren freiheitliche Versprechungen auch sein mögen?Ich denke, daß diese
Gedanken sehr ernst genommen werden müssen und als Antwort nenne ich ein paar Stichworte. Es besteht kein
Zweifel daran, daß heute die Errichtung eines jeden sozialistischen Arbeiterstaates - wo auch immer in der Welt -sofort
die internationale Bourgeoisie, und allen voran die USA und das sogenannte westliche politisch-militärische
Büdnis, auf die Idee bringen würde zu intervenieren, und die Herrschaft der Bourgeoisie
wiederherzustellen. Ob solch eine Intervention erstens tatsächlich stattfinden könnte, und ob es ihnen zweitens
gelingen würde, unseren hypothetischen sozialistischen Staat niederzuschlagen, ist eine andere Frage. Gerade die
militärischen Interventionen der letzten Jahre, vom Golfkrieg bis hin zu den Bürgerkriegen in Bosnien und
Somalia, die entweder im Namen des Westens und der USA oder zunehmend im Namen der UNO stattgefunden
haben, haben gezeigt, daß ihren praktischen Kapazitäten in Sachen Intervention und Unterdrückung Grenzen
gesetzt sind, und obwohl ihre technologischen Möglichkeiten für eine Vernichtung gewaltig sind, ist aus
wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Sicht ihre Einmischung in große konterrevolutionäre Kriege und gegen
Massenbewegungen nicht einfach. Ich bin der Meinung, daß es nicht sehr schwer ist, sich vorstellen zu können,
daß sie es trotz einer direkten militärischen Intervention nicht schaffen werden, einen sozialistischen
Arbeiterstaat - sogar in einem mittelgroßen Land bezüglich der Wirtschaft, der Fläche und der Bevölkerung -umzustürzen.
Dies ist eine Tatsache. Aber das allein ist weder eine ausreichende Antwort auf Ihre Frage, noch kann es ein
Trost für die Generation einer Gesellschaft sein, die eine Revolution gemacht hat, und nun ihr Leben für die
Verteidigung ihrer sozialistischen Revolution gegen die militärische Offensive der internationalen Bourgeoisie
opfern muß. In der Zeitung einer der Strömungen der Gruppe "Fadaian" lesen wir, daß "ein vereinigtes und
bewaffnetes Volk in Räten unbesiegbar ist". Nehmen wir an, daß das stimmt, und diese Metaphysik ein Gesetz
der materiellen Welt ist. Aber der Prozeß der Verifizierung dieser Unbesiegbarkeit ist ein sehr schmerzhafter
Prozeß, in dem die Menschen, ihr Leben, ihre Existenz und ihre Gefühle in Blut getränkt werden. Der
menschliche Aspekt dieser Problematik ist nur ein Aspekt von vielen, deren längerfristiger und politisch-historischer
Aspekt und die Konsequenzen, die dieser Prozeß für die sozialistische Revolution hat, nicht weniger
erschreckend ist als ihr menschlicher Aspekt. Diese Bedeutung einer sozialistischen Revolution für die Masse der
Menschen, die sich durch diese Revolution befreien wollen. Der Sozialismus ist eine Revolution für das
Wohlbefinden und die Beendigung des Notleidens der Menschen, eine Revolution gegen die Brutalität, die sich
als der Hauptbestandteil der bisherigen Gesellschaften erwiesen hat. Sie ist eine Revolution für die Freiheit,
Fröhlichkeit und die Kreativität der Menschen. Aber eine militärische Intervention der internationalen
Bourgeoisie überspritzt dieses Geschehen mit Blut, und setzt des mit Notleiden, Armut, Isolation, mit
Opferbringen und unter mehr Schmerzen, Bedürftigkeit und Traurigkeit zu leiden, gleich. Sogar ein endgültiger
Sieg der Revolution kann über Jahre nicht diese Spuren von der Geburtsstunde der Gesellschaft beseitigen.
Dieser Druck und das Notleiden hat konkrete Konsequenzen für die Revolution und ihre weitere Entwicklung.
Reaktionäre Tendenzen wie Nationalismus, Religion und Patriarchalismus, um nur ein paar wichtige Beispiele zu
nennen, werden Rükkenwind bekommen, und die Würde des Menschen und der Wert des menschlichen Lebens
und der menschlichen Sicherheit verlieren ihren Stellenwert für die Menschen selbst. Der Sozialismus wird auf
die Verteilung der Armut reduziert usw. Deshalb ist es nicht die Frage, ob wir unbesiegbar sind oder nicht. Sollte
man uns zu solch einem Krieg zwingen, dann haben wir die Aufgabe, zu gewinnen. Aber für mich ist die Lösung,
zu versuchen, diese Gefahr von vornherein auszuschließen. Und dafür muß sich unsere Aufmerksamkeit auf eine
fundamentale Säule der Arbeiterrevolution, nämlich auf den internationalen Charakter der Arbeiterklasse und des
Arbeitersozialismus richten.
Meiner Meinung nach ist der internationale Charakter der Arbeiterklasse und das internationalistische Wesen des
Arbeiterkommunismus derjenige Faktor, der in der heutigen Welt aus dem Sozialismus eine objektive und
realisierbare Alternative schafft. Die Arbeiterrevolution in einem Land wie dem Iran muß mit Hilfe der
internationalen Arbeiterklasse und besonders der Arbeiterklasse derjenigen Länder, die auf internationaler Ebene
an der Spitze des Bourgeoismilitarismus stehen, vor der Offensive und dem internationalen militärischen und
wirtschaftlichen Druck geschützt werden. Dies ist eine ganz reale Möglichkeit. Ich bin der Meinung, daß sich die
Arbeiter im Iran Gedanken darüber machen müssen, welche von den folgenden Möglichkeiten real und welche
utopisch sind: daß ein Parlament im Iran errichtet und das Streik- und Koalitionsrecht und das Recht auf
Arbeiter- und kommunistische Aktivitäten gewährleistet wird, und daß sich die einheimischen und ausländischen
Kapitalisten, die Bourgeoisarmee und die bewaffneten politischen Gangster, von den panislamistischen
Strömungen bis hin zu den National-Islamisten, Monarchisten und Faschisten, mit der neuen Lage einverstanden
erklären, ihre Waffen abgeben und sich parfümieren und am Parlament teilnehmen, oder daß die Arbeiter selbst
die Macht übernehmen, und mit Hilfe der deutschen, französischen und amerikanischen Arbeiter aufpassen, daß
sie aus der Position der Schwäche nicht in einen ungewollten Krieg hineingezogen werden? Ich denke, daß die
heutige Situation beweist, daß der Arbeiterinternationalismus nicht nur ein Prinzip; eine Überzeugung oder ein
Gefühl der Klassenzusammengehörigkeit, sondern eine effektive und reale Waffe im Klassenkampf ist. Man muß
diese Waffe aktivieren und benutzen. Damit wir eine Tragödie, wie sie die internationale Bourgeoisie versuchen
wird; einer Arbeiterrevolution in einem Land wie dem Iran aufzuzwingen, vermeiden, und damit wir solche
Revolutionen verteidigen können, entscheiden wir uns für die Strategie der Errichtung einer internationalen
Arbeiterfront.
Vielleicht macht diese Angst, die die USA und der Westen den arbeitenden Massen der Welt machen, sie für die
pseudodemokratischen Versprechungen der Bourgeoisopposition in diesen Ländern empfänglicher. “Wir sind
unbesiegbar" - wie revolutionär und ehrlich diese Überzeugung auch sein mag - ist keine Antwort auf diese
Problematik. Die wirkliche Antwort ist die tatsächliche Organisierung des Arbeiterinternationalismus auf
verschiedenen Ebenen.
Mit dieser Betonung auf Internationalismus bin ich auf keinen Fall der Meinung, daß die Arbeiterrevolution nur
auf weltweiter Ebene siegen kann, und ansonsten zum Scheitern verurteilt ist. Ich betrachte die These, daß der
Sozialismus nur durch einen großen und simultanen Knall auf internationaler Ebene errichtet werden kann, als
nicht real. Im tatsächlichen Lauf der Geschichte ist es viel wahrscheinlicher, daß die Arbeiter in einer Ecke der
Welt die Macht übernehmen können, ohne daß sie in anderen Teilen dazu in der Lage wären. Deshalb ist es für
den Arbeitersozialismus unausweichlich, zu versuchen, in diesem oder jenem Land oder einer Gruppe von
Ländern, sein gesamtes politisches und wirtschaftliches Programm zu realisieren. Das lebenswichtige ist, daß die
Arbeiterklasse in anderen Ländern und besonders in denjenigen Ländern, die an der Spitze des
Bourgeoismilitarismus in der Welt stehen, das notwendige Bewußtsein und die internationalistische Organisation
besitzt, die sie in die Lage versetzen würde, die Politik der militärischen Intervention der eigenen Bourgeoisie zu
blockieren. Dies ist machbar und zu realisieren.
Mansoor Hekmat
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